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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

26. 12. 2014 - 13:59

The Smallest Island

Rewind 2014: Das Jahr, als Großbritannien sich einmal kräftig im kollektiven Kleingeist suhlte.

Neulich bei der Weihnachtsfeier des Fortuna Pop!-Labels im Shacklewell Arms, es war gerade noch gemütlich, bevor die geballte Meute über das Lokal herfiel. Ich sah ein bekanntes Gesicht an der Bar.

Rewind 2014

Das Jahr im Rückblick, alle Highlights, die besten Storys und wegweisende Entwicklungen

"Abend, Paul." Das war Paul Wright, ehemals Co-Betreiber des Track and Field-Labels, das uns einst die Nullerjahre erträglicher machte.
"Hallo, Robert", sagte er, "Darf ich mich im Namen dieses Landes bei dir entschuldigen?"

Er musste nicht einmal erklären wofür. Es war in der Tat ein unangenehmes Jahr für Nicht-Briten in Großbritannien, obwohl es mich als einen, den man nicht von vornherein als solchen erkennt, natürlich wieder einmal nicht persönlich betraf.

"Danke, Paul, ich weiß genau, was du meinst, und es ehrt dich ungemein, dass du dir darüber Gedanken machst. Normalerweise, wenn mich Leute fragen, wie's so geht, und ich ihnen sage, dass ich das Klima in diesem Land momentan ziemlich unerträglich finde, muss ich ihnen erst erklären, wovon ich überhaupt rede: Die Mainstream gewordene Verbreitung fremdenfeindlicher Propaganda, vor allem gegen EU-Migrant_innen. Wo sogar die Labour Party jetzt schon fleißig mitrudert. 'Ach. Das. Ja, furchtbar', sagen sie dann, 'Aber damit bist ja nicht du gemeint.' Natürlich, weil ich ja auch nicht als Osteuropäer gelte und als Angehöriger der Mittelklasse wahrgenommen werde. Aber die Tatsache, dass mich das zur geduldeten Ausnahme macht ..."

"... macht's eigentlich noch schlimmer!", verlängert Paul.

"Genau. Und ich finde, das, was da passiert, lässt dieses ganze Land furchtbar kleingeistig und neidig aussehen. Das ist unwürdig."

"Und schäbig. Schrecklich. Wenn du zurückdenkst an die Olympischen Spiele, das ist nur zwei Jahre her. Da war dieses kleine Fenster der Weltoffenheit, wo es so ausgesehen hat, als wäre diese miese UKIP-Mentalität endgültig eine Sache der Vergangenheit. Wie konnte es passieren, dass wir in so kurzer Zeit dort angekommen sind, wo wir jetzt sind?"

Es war gut, das Gespräch mit Paul, und es hat mich versöhnt, weil es mich daran erinnert hat, dass diesem ungebremsten Chauvinismus, der hierzulande derzeit floriert, in Großbritannien auch eine ausgeprägte Tendenz zur Selbstkritik entgegensteht.

Ob ich meinen Jahresrückblick über "das (letzte?) britische Jahr in der EU" schreiben möchte, war die Frage von der Redaktion.

Nun ja, wenn überhaupt dann das drittletzte. Denn selbst wenn bei den Unterhauswahlen nächstes Jahr die Tories die Mehrheit kriegen, würde die Abstimmung über einen Austritt erst 2017 stattfinden.
Aber das Thema passt schon. Die verschiedenen Manifestationen krankhafter Europhobie (sprich Xenophobie, getarnt in wehleidigen Anti-Establishment-Posen) zogen sich heuer als roter Faden durch meine Blogs:

Cold Snap - Jänner:

Über das kälter gewordene politische Klima.

Zitat:
"Eigentlich hätte die Labour Party als Opposition zu dem Thema ja einmal eine Linie gehabt, nämlich nicht die Einwander_innen, sondern deren schamlose Ausbeutung durch den Arbeitsstrich zu bekämpfen, die am unteren Ende der Einkommensskala die Löhne drückt. Stattdessen stieß aber gestern die große Labour-Hoffnung Schattenwirtschaftsminister Chuka Umunna kräftig ins Horn der Idioten, indem er erklärte, die Sache mit der Bewegungsfreiheit innerhalb der EU sei als eine 'der Arbeiter, nicht der Arbeitssuchenden' gedacht gewesen.
Wie jeder Smiths-Fan weiß, werden Zweitere schnell zu Ersteren, sobald 'I was looking for a job' nach erfolgter Immigration erfolgreich in 'and then I found a job' mündet, ergo heaven knows, was er gemeint haben kann, wenn er sagte, dass er Hochausgebildete daran hindern will, die Jobs Minderausgebildeter anzunehmen."

Interessant, das jetzt zu lesen. Ich hatte ganz vergessen/verdrängt, dass die Infragestellung der Bewegungsfreiheit innerhalb der EU nicht erst im Spätherbst als Reaktion auf UKIP aufs Tapet kam, sondern schon zu Jahresbeginn in die Labour-Agenda Einzug gehalten hatte.

Haus mit "I'm Voting UKIP"-Poster im Fenster

Robert Rotifer

Im Mai, kurz vor der EU-Wahl, dominierte UKIP bereits völlig den politischen Diskurs:

Nigel Making Plans:

"In letzter Zeit hat sich die Rolle von Farage gewandelt. Aus dem Clown in der Runde, der die ulkigsten Sachen sagt, ist der Herausforderer geworden. Er hat seine Kalauer so oft wiederholt, bis keiner mehr lachen wollte.
Man nimmt ihn jetzt ernst, er ist zum Herausforderer geworden, erst nur für die Tories, mittlerweile auch für die Labour Party, die sich verfrüht über die Spaltung des rechten Lagers ins Fäustchen lachte, zu arrogant, sich anzusehen, wie der Rechtspopulismus in den vergangenen zwei Jahrzehnten in ganz Europa die traditionellen Territorien der Sozialdemokratie erobert hat."

Zu dem Themenfeld schrieb ich übrigens heuer auch ein paar Blogs für die blauen ORF-Seiten.
Zum Beispiel: Hypothesen einer Existenzkrise oder Umrühren und köcheln lassen (alle Links zusammengefasst in Sausage, Kippers and Greens).

UKIP sollte unter massiver Unterstützung vonseiten eines großen Teils der britischen Medien die stimmenstärkste britische Fraktion in Brüssel werden.

Die Pointe des Abends - Mai:

"Wie auch hier ausführlich berichtet, hatte die Dämonisierung alles Europäischen in den britischen Medien und im politischen Diskurs vor allem seit der Euro-Krise ein derart hysterisches Crescendo erreicht, dass der mit schwerer Zunge aus allen Pubs des Landes schallende Ruf 'We want our country back!' schließlich auch auf dem Stimmzettel seinen zählbaren Niederschlag finden musste.

Die wahre Ironie daran ist aber, dass Großbritannien nun 23 UKIP-Abgeordnete nach Brüssel schickt, die ihr Bestes tun werden, den britischen Auftritt dort so destruktiv wie möglich zu gestalten."

David Cameron verrannte sich weiter in die Strategie, UKIP durch Nachahmung beizukommen:

Dämon Superstaat, der harmlose Trip und die Autokorrektur - Juni:

"Wenn man nicht das puterrote Gesicht, die indigniert flatternde Sturmfrisur, und die fest an seine Aktenmappe geklammerte Hand Camerons sähe und wüsste, dass der Typ nicht schauspielen kann, man könnte fast glauben, es wäre alles nur ein großes Täuschungsmanöver, um uns Deppen vorzugaukeln, dieser Kampf gegen den Dämon Superstaat sei mehr als nur ein Zank um die Straßenkarte an Bord eines Google-Maps-gesteuerten Self-Drive-Autos, das unbeirrt in Richtung der Aufgabe politischer Souveränität an die Konzerne steuert."

Britannien, bist das du? - Juli:

"Ein möglicher Wahlschlager ist neben der Aussicht auf einen EU-Austritt der von der konservativen Rechten immer wieder gern geforderte Ausstieg Großbritanniens aus der europäischen Menschenrechtskonvention; und zwar im Austausch gegen eine völlig neue, eigene British Bill Of Rights, in welche man dann reinschreiben kann, was einem angesichts des permanenten Notstands gerade opportun erscheint."

RM Hubbert am Strand mit Hund

Luke Joyce

RM Hubbert

Im September stand dann die Abstimmung über die schottische Unabhängigkeit an.
"We get to build the country we want" - August:

Mein Interviewpartner RM Hubbert war sich sicher, dass die Yes-Seite gewinnen würde. Seine Vorhersage für den Fall, dass doch das No gewinnt, war trotzdem ziemlich zielsicher:

"I've no doubt at all that if we vote No now, we are going to get screwed over in a way that we haven't seen before."

Kurzfristig lag Yes knapp voran.

Siehe Ängste einer Königin:
"George Osborne und sein Chef, der britische Premier, drohen als das tolpatschige Spekulantenduo in die Geschichte einzugehen, das die britische Union verspielte."

Panda, der Menschengliedmaßen isst. Aus dem FF Video zu Evil Eye

Franz Ferdinand

Oder auch Panda Power, mein Interview mit Paul Thomson von Franz Ferdinand, auch ein Yes-Wähler, der allerdings hier auch voraussah, warum alles anders kommen sollte, als es sich seinesgleichen erträumte:
"The way this debate has energised and politicised young people is really exciting, they’re the ones that could swing the vote. Older people I find tend to fear change, and those are the ones most likely to read newspapers, and it’s the newspapers, many with a vested interest, that are employing scare tactics."

Ob ja oder nein, Westminster kann nur verlieren, behauptete ich kurz vor der Abstimmung:

"Wenn sich 97 Prozent der Bevölkerung, darunter viele, die nie in ihrem Leben gewählt haben, für dieses Referendum als Wähler_innen registrieren haben lassen, dann sieht es für eine oppositionelle Labour Party einfach nicht gut aus, Seite an Seite mit David Cameron unter Slogans wie dem heute vor Wahllokalen aufgestellten Plakat 'No, it's not worth the risk' in solche eine Abstimmung zu ziehen.

Bahnfahrerin liest Daily Mail kit der Überschrift "Queen's Fear of the Break-Up of Britain"

Robert Rotifer

Falls es nun wirklich zu einem knappen 'No' käme, wie es nach den letzten Umfragen aussieht, wie soll sich Labour von so einer Position aus bis zum Unterhauswahlkampf als Kraft der Veränderung umpositionieren?"
Prompt münzte David Cameron gleich am Morgen nach dem "Nein" die ganze Diskussion von einer schottischen zu einer um englische Rechte um und erwischte damit Labour eiskalt auf dem falschen Fuß: Sie reden von Veränderung:

"Der Ausgang der Abstimmung mit zehn Prozent Abstand zwischen Nein und Ja ist so klar, dass in Wahrheit auch kein öffentlicher Druck besteht, denn da oben im Norden gibt es für Cameron ohnehin keine Unterhaussitze zu verlieren. Er wird Gordon Brown wieder zurück ins Exil schicken und die großen Worte mit ihm."

Das Thema der Erweiterung schottischer Selbstbestimmungsrechte ist mittlerweile tatsächlich völlig vom Tisch, und drei Monate, nachdem sie die Abstimmung "gewann", steckt die schottische Labour Party mitten in einer tiefen Existenzkrise. Ihr neuer Chef Jim Murphy ist ein alter Blairist mit dementsprechend wenig Verständnis für die wahren Gründe des Dilemmas, und der Partei droht bei den Unterhauswahlen im Mai der Verlust der Hälfte ihrer schottischen Sitze an die Scottish National Party.

Inzwischen liefen zwei Tories zur xenophoben UKIP über und hielten bei Zwischenwahlen in Rochester & Strood, sowie Clacton unter ihren neuen, lila-gelben Parteifarben ihre Sitze.

Tauben mit Schildern "Go Back To Africa", "Migrants not welcome", "Keep off our worms" auf Telegrafenleitung neben Zugvogel

banksy.co.uk

Und während die Partei dort ihre Propaganda verbreitete, wollte an letzterem verlotterten Seeort die Gemeindeverwaltung einen satirischen Banksy partout falsch verstehen: Die Übermalung des Rassismus.

"Aber die Übermalung des Banksy-Wandbilds in Clacton ist eine völlig andere Geschichte. Da steht kein kunstunkundiger, das Dekodieren von Metaphern aus Prinzip verweigernder Mob dahinter, sondern eine politische Landschaft, die sich nicht mit dem Kern ihrer eigenen Verkommenheit konfrontieren lassen will."
Das unter solchen Umständen Unvermeidliche geschah im Oktober:
Ein erster kleiner Zipfel des Unterhauses wurde offiziell zu Farageland:

"So, jetzt hat Großbritannien also auch seinen ersten Abgeordneten einer Rechtsaußenpartei im Unterhaus sitzen, und das, was heutzutage als europäischer Normalzustand durchgeht, ist hergestellt."

Zeitung mit Carswell und Farage drauf vor Zug, der nach Clacton-on-Sea geht.

Robert Rotifer

Schon langsam wurde die Sache persönlich:

Es reicht, ich will meine Stimme!

"Ich lebe nun schon seit bald 19 Jahren in diesem Land. Seit bald 19 Jahren zahle ich hier Steuern. Aber ich wähle nicht. Weil ich nicht darf. (…) Da die zweieinhalb bis drei Millionen EU-Bürger_innen, die hier wohnen, nicht wahlberechtigt sind, spricht die politische Kaste ausschließlich für ein von Medien und Politik taktisch desinformiertes, inländisches Publikum. Die Verzerrung der politischen Botschaften ist also systemimmanent."

Ein Labour-Aktivist, der mir als Lösung des Problems anbot, mich einbürgern zu lassen, machte mich erst recht wütend. Obwohl, wütend war er zu dem Zeitpunkt selber schon längst, als ich ihm an den Kopf warf, dass sich seine Partei sich mit ihrem Versprechen, EU-Migrant_innen für die ersten zwei Jahre das Recht auf Sozialhilfe vorzuhalten, der fremdenfeindlichen Hetze anbiedere.
Ein Furz in der Underground.

"Natürlich war er darüber einigermaßen entrüstet. Yvette Cooper und Rachel Reeves und all die anderen in der Labour Party seien grundanständige Leute.
Das, sagte ich, glaube ich ihm gern, denn es braucht grundsätzlich immer die Mitarbeit der anständigen Leute, um Xenophobie und Rassismus salonfähig zu machen."

Sehr tröstlicherweise brauchte ich Paul Wright das alles gar nicht zu erklären, neulich dann im Shacklewell Arms. Noch tröstlicher war zwei Tage drauf die Story über eine UKIP-Verarschungs-App, die Schulkinder der Canterbury Academy, einer nahegelegenen Gesamtschule gebastelt haben.
Das ist, was den xenophoben, rassistischen Rechtspopulismus von dem anderswo in Europa, schon überhaupt in Österreich auch am Ende seines besorgniserregenden Boom-Jahres 2014 immer noch unterscheidet: Die Jugend scheint bisher wohltuend unbeeindruckt, das ist schon was wert.

Wer mit britischen Hype-Zyklen vertraut ist, darf ein kleines bisschen hoffen, dass sich da was anbahnt. Dieser Wind könnte sich vielleicht ja noch drehen, die Diskussion sich auf die wahren Gründe des gesunkenen Lebensstandards der überwiegenden Mehrzahl der Briten umlenken lassen.

Vielleicht sogar noch rechtzeitig bis zur kommenden Unterhauswahl im Mai.