Erstellt am: 15. 11. 2014 - 16:14 Uhr
"Toleranz. Anders als Du denkst."
Aus dem Leben der Lo-Fi-Boheme
Geschichten aus der deutschen Haupstadt von Christiane Rösinger
Am 15. November startete die ARD bereits zum neunten Mal ihre Themenwoche. Unter dem Motto "Toleranz. Anders als Du denkst." soll es bis zum 21. November im Ersten Deutschen Fernsehen, in den dritten Fernsehprogrammen, sowie den Hörfunk- und Online-Angeboten der ARD in über 60 Beiträgen und Filmen um diesen arg strapazierten Begriff gehen.
Aber schon vor dem eigentlichen Start, bei der Plakat- Werbeaktion zur Themenwoche, ging die ganze Aktion so dermaßen nach hinten los, dass sie inzwischen als ein Paradebeispiel für Negativmarketing gilt. Denn noch nie erntete eine Themenwoche schon vor Beginn so viel Kritik und Häme, mussten die Macher einen so gewaltigen Shitstorm über sich ergehen lassen.
Die Plakataktion zum Thema "Toleranz" sollte wohl provokant auf Menschen mit Vorurteilen wirken. Und provoziert hat sie auch - aber anders als erwartet. Auf einem Sujet sieht man zum Beispiel einen Mann dunkler Hautfarbe und darüber steht: "Belastung oder Bereicherung?" Auf dem zweiten Plakat gibt ein Mann einem anderen einen züchtigen Kuss auf die Stirn, die Überschrift fragt: "Normal oder nicht normal?". Ein weiteres zeigt einen Mann im Rollstuhl, "Außenseiter oder Freund?".

ARD
Ein schwarzer Mann, der natürlich kein Deutscher, sondern ein Flüchtling ist, ein quengelndes Kind, zwei schwule Männer, ein Rollstuhlfahrer. Sie alle fordern also angeblich unsere "Toleranz".
Die Provokation liegt schon im Begriff der Toleranz, denn tolerieren heißt "ertragen". Toleranz bedeutet etwas zu dulden, mit dem man nicht unbedingt einverstanden ist. Die ARD-Werbung suggeriert uns, es sei fraglich, ob wir Schwarze, Homosexuelle, Kinder und Menschen mit Behinderung tolerieren, also ertragen können.
Nicht nur die betroffenen Minderheiten, die unsere "Toleranz" fordern, fühlen sich provoziert, sondern auch Politiker und Verbände kritisieren die ARD, weil sie längst geklärte Positionen in Frage stellt. "Diese Themenwoche dreht das Rad der Zeit um 50 Jahre zurück" schreibt Volker Beck, der Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion in einem offenen Brief an die ARD. Denn ob man Homosexualität und Inklusion toleriere, solle heutzutage eigentlich unstrittig sein.
Ein Slogan der queeren Bewegung lautet schon seit einiger Zeit: "Akzeptanz statt Toleranz". Wer andere toleriert, glaubt, dass es ihm oder ihr zusteht, zu entscheiden, andere Gruppen trotz ihrer "Andersartigkeit" zu dulden. Die Forderung nach Akzeptanz geht da ein Stück weiter. Etwas zu akzeptieren bedeutet, mit etwas einverstanden zu sein, es anzuerkennen.
Die Proteste und kreativen Umgestaltungen der Plakate zeigen, dass die Lebenswirklichkeit ganz anders ist, als von den Programmmachern angenommen, bei der ARD hinkt man der Zeit weit hinterher.
Beim Hessischen Rundfunk scheint man noch in den 50er Jahren zu leben, denn dort kann man zur Themenwoche Toleranz auf der Homepage nachlesen:
"Ist sich das knutschende schwule Paar in der U-Bahn eigentlich bewusst, wie viel Toleranz es seinen Mitreisenden abverlangt? Und mit welcher Beharrlichkeit die muslimische Kollegin den Betrieb in der Kantine lahmlegt, weil sie unbedingt wissen muss, ob in dem Essen auch wirklich kein Schweinefett enthalten ist. Kurzum: Es bedarf schon einer gehörigen Portion Toleranz, um den Alltag zu überstehen!"
Intensives öffentliches Knutschen ist unschön - aber gilt das nicht genauso für heterosexuelle Pärchen? Und ist die Frage nach Schweinefett bei der Bestellung nicht weniger zeitraubend als die üblichen genauen Befragungen durch VeganerInnen, Allergiker und Glutenunverträgliche?
Warum muss man das, was zum Glück sowieso längst akzeptiert ist, nämlich Männer küssende Männer und Schweinefleisch meidende Muslime nochmal zum Problem machen?
Natürlich empfinden erschreckend viele Leute schwule Paare auch heute noch als abstoßend; und es gibt noch viel zu viele, die schwarze Menschen als Belastung einordnen und als "Flüchtlinge" oder "Drogendealer" abstempeln. Aber auch wenn noch viele so denken, müssen diese Assoziationsketten auf Plakate gedruckt und weiterverbreitet werden?
Letztendlich schließen die Fragen "normal oder nicht normal" alle aus, die auf den Plakaten abgebildet sind. Sie müssen nämlich passiv darauf hoffen, vom ARD-Zuschauer toleriert, ertragen zu werden. Somit erklärt der Sender sein Publikum für heterosexuell, nicht-schwarz und nicht-behindert.
Dabei war man selbst in den viel gescholtenen Vorabendserien der ARD schon mal weiter: Bei "Verbotene Liebe" wimmelt es von ziemlich normalen Lesben und Schwulen und beim "Marienhof" gab es einst eine klempnernde Woman of Colour und einen Computerspezialisten im Rollstuhl. Sie waren keine Außenseiter und die Frage "Belastung oder Bereicherung?" wurde nie gestellt. Sie waren einfach dabei und gehörten dazu.