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Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

2. 11. 2014 - 13:03

Das andere Amerika

Die Anthologie "Verdammter Süden" versammelt 17 furiose literarische Reportagen aus Lateinamerika.

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Buchtipps, Interviews mit AutorInnen und Neues aus dem Literaturbetrieb

Andrés geht nach Medellin, der ehemaligen Drogenhochburg in Kolumbien, um sich auf ein ganz besonderes Experiment einzulassen. Er will versuchen, sechs Monate lang in der ihm fremden Stadt allein vom gesetzlichen Mindestlohn zu leben, den er für 50 Wochenstunden Arbeit in einer Textilfabrik erhält. Andrés hat sich für Medellin entschieden, weil er denkt dass sein Vorhaben in einem gemäßigten Klima unkomplizierter sei. Doch von Anfang an ist es ein knallhartes Rechenspiel: Die Hälfte des Lohns gehen für ein Zimmer und Lebensmittel drauf, mehr als ein Sechstel für Bustickets. Krankenversicherung und Rentenkasse schlagen auch noch zu Buche.

Unverputzte Häuser in Medellin

CC BY SA von Pedro Szekely flickr.com/pedrosz/

CC BY SA; 2.0 Medellin

Die einzige Schummelei, die sich Andrés bei seinem Experiment erlaubt, sind Toiletteartikel. Zahnbürsten, Zahnpasten und Deos hat er vorher gekauft, denn dafür würde sein Lohn nicht reichen. Alles, was man nicht zum unmittelbaren Überleben braucht, ist Luxus und es wird schon zur finanziellen Herausforderung, wenn man statt dem Bus ein Sammeltaxi nehmen muss.

Was Andrés in den sechs Monaten lernt ist, dass die Verlockungen der Warenwelt unerreichbar bleiben, zumindest nicht mit ehrlicher Arbeit, und dass es sehr viel Anstrengung erfordert, unter diesen Umständen auf dem rechten Weg zu bleiben.

Geschichten entdecken, statt sie zu erfinden

Die Reportage "Sechs Monate auf Mindestlohn" des Kolumbianers Andrés Felipe Solano ist exemplarisch für die Crónicas, literarisch erzählte Reportagen. Eine dichte und mitreißende Beschreibung der Realitäten, erzählt von den Rändern der Gesellschaft, klischeefrei und voller politischem Sprengstoff. Solche Geschichten braucht man in Lateinamerika nicht zu erfinden, es reicht, sie zu entdecken, und das versuchen die Cronistas.

Buchcover: "Verdammter Süden"

Suhrkamp

"Verdammter Süden. Das andere Amerika" herausgegeben von Carmen Pinilla und Frank Wegner ist in der Edition Suhrkamp erschienen.

Crónicas sind in den letzten Jahren in ganz Lateinamerika sehr populär geworden, doch sie haben es bisher nicht so richtig nach Europa geschafft. Hier dominiert unter dem Genre Lateinamerikanische Literatur seit Jahrzehnten der "Magische Realismus", dieses Genre, das eine mythische Welt mit realen Gegebenheiten verwebt und in dem Autoren wie Gabriel García Márquez oder Jorge Luis Borges brilliert haben. Die Crónicas wollen diese teils exotisierende, magisch-realistische Literatur und das Bild, das die von ihrem Kontinent gezeichnet hat, überwinden. Der Literaturscout Carmen Pinilla und der Übersetzter Frank Wegner haben einige der besten Crónicas gesammelt und in einer Anthologie mit dem schönen Titel "Verdammter Süden. Das andere Amerika", auf Deutsch publiziert.

In der Anthologie lassen sich einige Autoren wie Andrés Felipe Solano auf Feldversuche ein, andere auf lange Recherchen. So finden sich in "Verdammter Süden" etwa Geschichten zu den Frauenmorden von Ciudad Juarez in Mexiko, den tödlichen Versuchen, die Grenze zu den Vereinigten Staaten zu überqueren, oder dem Aufbau der Argentinischen Arbeitsgruppe für Forensische Medizin, einem Verein, der daran arbeitet, verscharrte Leichen - meist Opfer staatlichen Terrors - zu identifizieren. Eine Arbeit, die an die Nieren geht, besonders, wenn man in Massengräbern Kinderknochen und Spielzeug ausgräbt.

Große Bandbreite an Geschichten

Neben bedrückenden, tragischen und atemraubenden Geschichten gibt es auch heitere Crónicas in dem Sammelband. Etwa jene von zwei Nilpferden, die aus dem Privatzoo des Drogenbarons Pablo Escobar ausgerissen sind auf der Suche nach Weibchen, oder jene vom alten Chivolito, der einem aussterbenden Beruf nachgeht. Er ist Totenwachenkomiker und erzählt beim Begräbnis Witze, um die Angehörigen ihre Trauer vergessen zu lassen.

Carmen Pinilla und Frank Wegner haben für "Verdammter Süden" 17 ausgezeichnete Crònicas zusammengetragen, die neue Einblicke in einen aufstrebenden Kontinent geben und von denen jede einzelne ausnahmslos zu empfehlen ist. Der einzige Vorwurf, den man den Herausgebern der Anthologie machen kann, ist, dass keine der Geschichten ganz aktuell ist, sondern sie alle im Original zwischen 2002 und 2010 erschienen sind. Dem Lesevergnügen tut das allerdings keinen Abbruch.