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Zita Bereuter

Gestalten und Gestaltung. Büchereien und andere Sammelsurien.

24. 9. 2014 - 21:06

"Mein erster literarischer Text seit der Matura"

Lukas Lengersdorff schreibt sich mit "Samson" auf den zweiten Platz bei Wortlaut, dem FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb.

Wortlaut

Der FM4 Kurzgeschichten-Wettbewerb.
Thema: "Haarig"

Die GewinnerInnen und ihre Texte werden in der FM4 Homebase (19-22h) gewürdigt und vorgestellt:

Bei seiner Deutschmatura 2008 schreibt Lukas Lengersdorffer in St. Pölten einen literarischen Text. Danach studiert er in Wien Psychologie. Immer wieder will er seither mit dem Schreiben anfangen. Fragmente und Ideen hat er viele - und auf seine Art schreibt er auch täglich, denn "Schreiben ist für mich vor allem in der U-Bahn stehen und darüber nachdenken, wie die Geschichte verlaufen könnte."

Er hat dann eine Idee oder einen Satz, über den er lange nachdenkt, am liebsten, während er "in der Gegend rumrenne". Unter Umständen sehr lange. Einmal hat er im Supermarkt an einem Satz gefeilt und ist eine halbe Stunde lang vor den Regalen auf- und abgegangen, bis er sich Sorgen machte, dass der Supermarktdetektiv ihn gleich zur Rede stellen werde, erzählt er lachend. Aber so sei das eben: er gehe herum, überlege die Sätze, schreibe sie nieder und freue sich dann.

portrait lukas lengersdorff

Veronika Kubasta

geb. 1990. Ist nebenberuflich vor allem Leser und Ins-Narrenkastl-Schauer. Möchte später einmal in die Forschung gehen und/oder ein paar Bücher schreiben.

Im Frühjahr 2014 hört er während einer Autofahrt einen Song auf FM4, den ihn zum Trackservice führt. Auf fm4.orf.at stößt er dann auf den Wortlautankünder. Und der gibt ihm dann den nötigen Push, endlich eine Geschichte zu schreiben.

"Es ist für mich eine große Überwindung, so Dinge zu Ende zu schreiben. Weil man immer eine große Idee hat und dann fürchtet man sich ein bissel davor, dass die am Ende wirklich ganz konkret ist und dasteht und kritisiert werden kann. Und man darüber nachdenken kann, ob sie vielleicht doch nicht so gut ist."

Die Idee war gut. Sehr gut. Die Jury war jedenfalls bereits ab dem ersten Satz schon besonders angetan:

Wir alle dachten damals, dass Paul das schönste Mädchen war, das wir jemals gesehen hatten. Seine Erscheinung in der Klassenzimmertür - jedem von uns hat sich ein anderes Detail ins Gedächtnis gebrannt. Markus fallen als Erstes seine Augen ein: eisblau, wie er noch aus der dritten Bankreihe erkennen konnte, und skandalös vergrößert durch Kajal und grauen Lidschatten. Ludwig, unser sensibler kleiner Ludwig meint lachend, er wisse noch genau, wie er damals starr vor Erstaunen dasaß und versuchte, den zerbrechlich aussehenden Körper und die brustlangen, strahlend blonden Haare mit dem Faktum zu vereinbaren, dass der Klassenlehrer den neuen Mitschüler mit einem Männernamen vorgestellt hatte. Ich wiederum schaute, noch bevor mir das Ausmaß des Ungewöhnlichen ganz bewusst geworden war, zu unserem Lehrer, der mit entschuldigendem Blick in seine Klasse hineinsah, bereit, die unvermeidliche Grausamkeit der Jugend einzudämmen. Aber kein Schimpfwort fiel, kein mit Spucke getränktes Papierkügelchen flog durch die Luft; nicht einmal Gelächter. Während Paul vor der Tafel mit einer klaren, aber (was Ludwigs Verstörung noch vergrößerte) eindeutig männlichen Stimme die Einzelheiten seines bisherigen Lebens aufzählte, starrte ich gebannt auf seinen Hals, wo sich, beim Schlucken schwach erkennbar, sein Adamsapfel auf und ab schob.

Die Jury

Irene Diwiak (Gewinnerin von Wortlaut 2013)
Jens Friebe (Musiker und Musikjournalist)
Gerhard Haderer (Karikaturist und Zeichner)
Eva Menasse (Schriftstellerin)
David Wagner (Schriftsteller)

Die geschlechtliche Verwirrung in dieser Coming-of-Age-Geschichte, die in einem Klassentreffen endet, "sei sehr lesbar und ein wunderbar geschriebenes kleines Stück Realität", schwärmt die Jury. Sprache und Stil sind stimmig, gut erzählt und gekonnt aufgebaut.

Lukas selbst mag Klassentreffen. Es sei immer ganz witzig, wenn man die Leute nach Jahren wieder trifft, weil sie irgendwie alle gleich seien, aber irgendwie auch nicht. Als psychologische Spielwiese - schließlich studiert er Psychologie - sieht er das aber nicht. "Ich analysiere die Leute nicht sonderlich."
Sie hatten auch keinen Paul in ihrer Klasse - vielmehr ist die Figur erfunden. Drei von vier Figuren sind ein bisschen Teile von ihm selbst, die er rausgeschrieben hat. "Ich verstehe die Psychologie nicht als eine Inspiration für mein Schreiben, es ist eigentlich eher ein Gegenpol. In der Wissenschaftlichen Psychologie, für die ich mich interessiere, wird der Mensch ganz stark entmenschlicht und ganz stark gemessen und ein bisschen zu einem Datenskelett gemacht und darum freut es mich auch immer, wenn ich in der Literatur dem Skelett ein bisschen das Fleisch zurückgeben kann."

Der zweite Platz bekommt:

  • Euro 750 (Zur Verfügung gestellt von Paperblanks.)
  • Veröffentlichung im Wortlaut-Buch, das im Herbst im Luftschacht Verlag erscheinen wird
  • DER STANDARD Goodie Bag
  • Ein Jahresabo der Literaturzeitung Volltext
  • FM4 Goodies der Saison
  • Ein Notizbuch von Paperblanks
logo paperblanks

Alle drei Preisgelder werden von Paperblanks zur Verfügung gestellt.

An diesem ersten Schultag war es Pauls (uns fiel nie ein besseres Wort ein) Schönheit gewesen, die uns davon abgehalten hatte, das für unser Alter Naheliegende zu tun, seinen Rat zu missachten und das Weibliche aus ihm herauszumobben. Danach war es seine schiere Überlegenheit. Einige Tage lang spielte er noch den braven neuen Schüler, danach wurde seine Sitzhaltung immer lässiger, sein Blick immer gelangweilter, bis er schließlich die meiste Zeit mehr über den Sessel hing als darauf saß, die Haare über die Lehne hängend, die flache Brust herausgestreckt, und die Augen auf die Kastanie gerichtet, deren Zweige gegen das Glas des Klassenfensters wuchsen. Keiner der Professoren wusste, wie sie mit ihm umgehen sollten, bis Herr Berger, unser Latein- und Klassenlehrer, zu ihm sagte, falls ihm langweilig sei könne er ja bitte die nächste Zeile Ovid für uns übersetzen. Paul schaute weg von der Kastanie auf die Ars Amatoria, stemmte sich mit seinen Armen gerade soweit auf, dass er die Wörter erkennen konnte, und übersetzte nach einigen Sekunden fehlerlos die erste Zeile, und dann, mit einem einzigen Numerus-Fehler, die zweite. Er hasse es, erklärte er, Sätze nicht bis zu Ende zu sprechen. Herr Berger stammelte ein paar lobende Worte, dann fuhr er fort. Frau Wachtner, unsere Geschichtslehrerin, fragte ihn wenig später, warum er denn nicht mitschreibe. Er antwortete, dass ihm die Version der österreichischen Geschichte in seinem Kopf genauso gut gefiele wie die, die sie gerade diktierte. Nach einigen empörten, fast geschrienen Überprüfungsfragen stellte sich heraus, dass seine Version tatsächlich erstaunlich akkurat war.

Soundtrack zur Kurzgeschichte

Enttäuschung, Liebe und Freundschaft - die Stimmung fängt Regina Spector in ihrem melancholischen Lied "Samson" ein, das natürlich auch schon namenstechnisch auf der Hand liegt.

Die melancholische Stimmung spiegelt sich für ihn auch in "Codex" von Radiohead. Der Song hat für ihn eine melancholische sommerliche Schönheit und erinnert ihn daran, wie wenn man nach einer Gartenparty draußen sitzt, es langsam kalt wird und man über das Leben nachdenkt, währen die Sonne schon aufgeht.
Und auch "Wake Up" von The Arcade Fire passt für Lukas gut zum Text, weil es in beiden um das Ende der Jugend geht. "Bei dem Lied denke ich v.a. daran, dass es irgendwie traurig ist, wenn die Jugend, diese freie Zeit zu Ende geht, wo man viele Fehler machen kann, die ja nicht so schlimm sind. Und dass man daran zurück denken kann und die damaligen Fehler auch ein bisschen vermisst".

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Der Standard

Einige Tage nach dieser Fotosession kam Paul zu uns und erzählte uns, dass sein Vater an ihn herangetreten war und gesagt hatte, die Haare müssten endlich ab. Wir kannten Pauls Vater nicht gut. Das wenige, was uns Paul von ihm erzählte, die kurzen Blicke, die wir manchmal von ihm erhaschen konnten, wenn er seinen Sohn an einem regnerischen Schultag abholte, die kurzen Telefonate, die wir mithören konnten, zeichneten das Bild eines ernsten Mannes, der seinen Sohn zurückhaltend, aber bedingungslos liebte. Umso überraschter waren wir, dass er, wie Paul erzählte, gesagt hatte, dass er das nicht mehr länger verantworten könne; dass Paul endlich einen Schritt ins Leben wagen müsse; und dass er, falls Paul noch mit langen Haaren vor die Maturakommission trete, ihm nicht sein versprochenes Studium an der Ostküste Amerikas finanzieren werde.

Paul ging nach Hause; wir sahen ihn den Rest der Vorbereitungszeit nicht mehr wieder. Wir blieben zurück und redeten uns über seinen Vater in Rage; wir wussten, dass Paul kämpfen würde, wir malten uns Widerstandsszenarien aus, innerhalb derer er unter dem enttäuschten Toben seines Vaters sein Haus verließ und bei einem von uns einzog und auf Amerika verzichtete und mit uns gemeinsam in Wien studierte, daran wäre ja auch nichts falsch. Wir wussten, dass er kämpfen würde, weil er sonst enden würde wie (ich hatte über den Mythos mein Spezialgebiet in Religion geschrieben, weshalb ich den Vergleich einbrachte), genauso enden würde wie Samson, der ohne seine Haare zusammenfiel zu einem armen Sklaven, schwach, normal, bedeutungslos.

Lukas liest seine ausgezeichnete Geschichte "Samson" am Freitag, 26. September bei der FM4 Wortlaut Party im Phil um 20 Uhr.

Einladung Wortlaut

Radio FM4/Gerhard Haderer/Sabine Brauner