Erstellt am: 12. 7. 2014 - 15:10 Uhr
Vorfreude, Abheben und der große Fall
Das burgenländische Wiesen ist die Geburtsstätte der österreichischen Festivals, lange bevor die Großfestivals Einzug ins Land gehalten haben. "Seit 1976" steht da auf den Bechern des Harvest of Art, nicht unstolz. Menschen, die nach Wiesen kommen, machen das nicht, um sich wegzubeamen, sondern der Musik wegen und weil sie Respekt vor den Acts haben. Männer tragen Bärte, die weder Hipster noch Conchita sind, sondern schon seit Jahren im Gesicht sprießen, aus Überzeugung. Selten hab ich so ein gutes, heterogenes, vielschichtiges Festivalpublikum wie am Harvest of Art gesehen. Hier trifft man keine Mingles, kein Truvada. Hier ist Bier das Opium fürs Volk. Hier kaufen sich Menschen schon um Mittag Soap&Skin-Platten, stehen in der ersten Reihe und halten sie fest in der Hand, voller Vorfreude, bis endlich das Konzert beginnt.
It isn't that easy
Jemand muss ja den Anfang machen. Und dass der nicht immer leicht ist, davon können die Amadeus-Gewinner 2013, Catastrophe & Cure, ein Lied singen. Bereits um 14 Uhr müssen sie auf die Bühne, an einem Freitag, an dem die meisten noch in der Arbeit sitzen. Entsprechend luftig ist die Publikumsdichte, doch davon lässt sich das oberösterreichische Indie-Alternative-Sextett nicht einschüchtern. Es bittet die Festivalbesucher_innen nach vorne zu kommen, was die auch artig machen. Die hauseigene Ohrwurmzucht wird angeschmissen, die Melodien betten sich im Gehörgang ein und verweilen dort nicht nur für ein kurzes Nickerchen. Sehr souverän das Ganze, sehr sympathisch. Catastrophe & Cure wollen noch eine Zugabe spielen, doch der straffe Zeitplan beim Harvest of Art verbietet ihnen das. Schade.
Baby I call Hell
"Good Morning everybody", rufen uns Lindsey Troy und Julie Edwards zu, als sie die Bühne betreten - um drei Uhr Nachmittags. Rockstar müsste man sein. Deap Vally nennt sich das Duo aus L.A., die mit ihrem Debütalbum im letzten Jahr schon beim FM4 Frequency Festival waren. Hier steht nicht nur die E-Gitarre unter Strom, auch das Publikum ist elektrisiert. Die Drummerin spielt die Hi-Hat barfuß und wird damit wohl zum heimlichen Traum von Quentin Tarantino. Sehr sexy, sehr lässig und voller Energie. Als Silberschmuck um den Hals tragen die beiden von Deap Vally je eine Hälfte eines zerbrochenen Herzens - das Logo der Band.
Ich stehe mit Conny Lee und Michael Fiedler links vor der Bühne und schaue mir das Konzert an. Michael beschreibt die Band als die unehelichen Kinder der White Stripes und Sonic Youth. Meine linke Augenbraue hebt sich. Große Vergleiche machen mich immer skeptisch. Aber nicht ohne Grund sind die White Stripes Fans der Band. Conny findet, dass die Drummerin zwei Jahre länger Schlagzeug gelernt hat als Meg White. Deap Vally klingen viel komplexer.
"Ich könnte, ich wollte, ich will dich verstehn"
Heimspiel für Garish! Die Band stammt aus dem Burgenland und spielt in Wiesen sozusagen on home turf. Entsprechend frenetisch werden Garish dann auch von den Festivalbesucher_innen empfangen. Erstmals ist die überdachte Fläche vor der Bühne des Harvest of Art fast voll. "Da kriegt man schon fast das Gefühl, wir wären alte Säcke!", meint Sänger, Keyboarder, Akkordeonspieler und Teilzeit-Trommler Thomas Jarmer süffisant.
Garish sind keine Indie-Popper, sondern Indie-Poeten. Das beweisen sie auch auf ihrem neuen Album "Trumpf". Der Song "Zweiunddreißig Grad" ist sowas wie das Herzstück des Albums, den Garish natürlich auch in Wiesen feilbieten.
Bei "Unglück trägt denselben Namen" verzichten Garish auf die Verstärker und Mikros und wollen die Raumakustik der überdachten Bühne ausnutzen. Eine Prise Bierzeltluft schwappt kurz ins Harvest of Art. Die Menschen fangen an zu schunkeln und klatschen auf 1-3 falsch im Takt mit. "Immer dieses Mitklatschen, das halt ich nicht aus!", sagt Conny.
"Gay House Party oder wie oder was?"
Mit dem New Yorker House-Duo Hercules and Love Affair findet urbaner Club-Sound und queere Artsy-Fartsyness Einzug in Wiesen. Hohe Männerstimmen und lasziver Hüftschwung gepaart mit britzelnden Elektronikklängen - das funktioniert auch am Harvest of Art hervorragend. Besonders die beiden Soul-Sänger ziehen einen in den Bann. "Cunt! Cunt!" singen sie, oder "Be yourself!" - befreie deinen Körper, sei ganz du selbst, lass dich nicht unterkriegen und tanze. Stellenweise erinnert das Konzert an ein politisches Happening.
Mastermind der Band ist Andrew Butler, der sich hinter den Turntables verschanzt. Er trägt eine Jogginghose in Regenbogenfarben. Die zwei Sänger einerseits ein schwarz-weißes Triangle-Hipster-Outfit, andererseits einen Zylinder, geringelte Kniestrümpfe und Draq-Queen-Grundierungs-Make-Up.
Mit im Gepäck haben Hercules and Love Affair auch ihr neues Album "The Feast of the Broken Heart". Singer/Songwriter John Grant hat unter anderem die Vocals zu "'I Try To Talk To You" beigesteuert. Nach Wiesen hat er sich leider nicht getraut. Aber auch ohne ihn zeigen Hercules and Love Affair, dass sie nicht nur als Studioprojekt, sondern auch als Liveband überzeugen. Jeder ist am dancen und mitfeiern. "Schon wieder dieses Klatschen", raunzt mir Conny zu und täuscht einen Migräneanfall vor. Michael bekommt das alles gar nicht mehr mit. Er bereitet sich innerlich schon auf Anja Plaschg vor. "Ich werd gleich abheben und davonschweben", meint er.
Elegisch, episch
Kakteen, Wüstensand und Bier mit einem Schuss Tequila; die Klapperschlangen zischen im Takt. Calexico würden den perfekten Soundtrack für einen Western liefern. Aber das Harvest of Art ist alles andere als staubig-trocken an diesem Freitag Abend. Im Regen tanzen die Menschen, obwohl unter dem Dach noch locker Platz wäre. Calexico sind nicht das erste Mal in Wiesen. Großes Gekreische, als sie die Bühne betreten. Man kennt sich, gegenseitig, und schätzt sich.
Joey Burns und John Convertino aus Tucson, Arizona sind Deliverer. Zusammen mit ihrer Band und dem Trompeter Jacob Valenzuela erzeugen sie mexikanische Hymnen, die klanglich extrem reichhaltig und mächtig sind. Viskose, nicht kleckern, klotzen, Soundhedonismus. Verschwenden, gespart wird sonst eh genug. Besonders schön: der nahtlose Übergang zum Joy Division-Cover "Love will tear us apart".
Wieder klatschen im Takt. In Connys linkem Auge platzen kleine Äderchen. Doch das muss sie aushalten. Michael bittet mich inständig ihn anzuketten, damit er gleich bei Soap&Skin nicht in den Orbit davonfliegt.
Vor Ehrfurcht erstarren
Die Lichter gehen aus, Nebelschwaden umhüllen die Bühne, Choräle schmiegen sich leise ans Ohr, nur der Bildschirm vom Macbook spendet etwas Licht. Plötzlich tritt ein weißer Schatten hervor, dirty frames vor meinem Auge. Soap&Skin schreitet ums Klavier und ans Mikro, setzt ihre Stimme an. Wehklagen, bittersüße Melancholie, kraftvoll und zerbrechlich. Die Härchen am Oberarm richten sich auf. Fuck, Gänsehaut.
Anja Plaschg hat sich sowas wie eine kleine Auszeit genommen und länger nicht in Österreich gespielt. Endlich steht sie beim Harvest of Art wieder auf einer Bühne. Das Publikum wird ganz leise und lauscht. Harte Industrialbeats, mechanische Druckerpressen, Klangtexturen klimpern aus dem Laptop. Sie spielt Klavier, im Hintergrund ein sechsköpfiges Orchester und ihre Schwester als Background-Vocalistin. Und immer wieder Anjas anklagende Stimme. "Shouts with a voice you can´t hear". Keiner klatscht mit. Conny freut's.
Immer noch prägt Trauer und Sehnsucht Soap&Skins Musik, vermischt mit einer Prise Insanity. "Please extinguish me", singt sie. Und doch scheint die Pause Anja verändert zu haben. Sie wirkt deutlich erwachsener, was immer das auch heißen mag, und klingt zwischendurch versöhnlicher, lächelt sogar ins Publikum und sagt "Ihr seid ganz wunderbar!". Mit Verve dirigiert sie ihre Musiker und tanzt vor dem Mikro. Man kann sich einer Soap&Skin nicht entziehen, auch wenn man es möchte. Ihre Präsenz ist so eindringlich, dass man nur in sich gehen kann und ihre Musik wirken lassen muss. Michael ist weg, ich kann ihn nicht mehr finden. Ich versteh ihn.
Derzeit arbeitet Anja Plaschg an ihrem nächsten Projekt. Shakespeares "Romeo und Julia" hat Anfang September Premiere im Hamburger Thalia Theater. Die Musik dazu kommt von Anton Spielmann und ihr.
"Not by myself"
Spielt Tricky da gerade wirklich Soap&Skin zum Auftakt seines Konzerts? Ja, nicht verhört. Anja kommt nochmal auf die Bühne, umarmt ihn. Was für eine Hommage. Und ganz ehrlich: damit hätte er es lieber auch sein lassen sollen. Soap&Skin wäre ein würdiger Abschluss vom Harvest of Art gewesen. Was folgt war ein zweistündiger Auftritt, bei dem man mit offenem Mund und sich aneinanderreihenden WTF-Momenten nicht wegsehen konnte. Also, so wie bei einem Unfall. Aber eben deutlich, deutlich länger.
Der Brite aus Bristol, der Mitte der 90er mit seinem Trip-Hop-Sound bekannt geworden ist, wirkte von Anfang an etwas neben der Spur. Immer wieder bricht er Songs vorzeitig ab, selbst seine Co-Sängerin ist verwirrt. "Put these lights down", schreit er dem Licht-Techniker entgegen. Die blauen Scheinwerfer scheinen ihn zu stören. "Puppy Toy" wird angestimmt, nach dreißig Sekunden wieder abgebrochen. Erste Buhrufe aus dem Publikum.
Immer wieder verfängt sich Tricky im Mikrokabel, Techniker müssen ihn aus dem Kabelgewirr befreien. Apathie in Rauchschwaden, welche aber nicht aus dem Nebelwerfer kommen. Zwischen den abgebrochenen Tracks teils minutenlange Stille. "Nothing really matters".
Irgendwann übernimmt Trickys Mitsängerin das Kommando, bestimmt, welches Lied als nächstes angestimmt wird. Während Tricky zwischenzeitlich ganz die Bühne verlässt, versucht sie, das Konzert am Laufen zu halten, oder besser gesagt, ins Laufen zu bringen. Ein Hauch Stimmung kommt auf. Gäbe es ein Bundesverdienstkreuz für Musiker_innen, diese Frau würde es verdienen.
Tricky kommt wieder auf die Bühne, nimmt seiner Mitsängerin das Mikro aus der Hand. "Some of you are winners, some of you are pussies", schreit er ins Publikum. Buhrufe und Pfiffe. Die Security wird angewiesen, Menschen auf die Bühne zu holen und mit ihm zu tanzen - der Anfang des letzten Songs, eine 50-Minuten-"Jam Session". "Not by myself" - das sehen wir, Tricky. Das sehen wir.