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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

11. 6. 2014 - 21:55

The daily Blumenau. WM-Journal '14, Eintrag 17.

The night before. Was in den letzten Tagen für kurzfristige Neubetrachtungen gesorgt hat.

Das WM-Journal '14 ist wie üblich mit den Previews, meinen Einschätzungen der WM-Teilnehmer gestartet.

Objekt in Teil 13 waren schlußendlich Spanien und Portugal

Teil 12 widmete sich den drei südamerikanischen Pazifik-Anrainern Kolumbien, Ecuador und Chile.

Teil 11 befasste sich mit Italien und der Schweiz und ihren (vormals nur den Deutschen zugeschriebenen) Tugenden.

Teil 10 gehört den brasilianischen Gastgebern und Favoriten.

Teil 9 räumte den mittelamerikanischen Teams aus Mexiko, Costa Rica und Honduras wenig Chancen ein.

Teil 8 beschrieb drei asiatische Vertreter (Iran, Japan, Süd-Korea).

Thema in Teil 7 waren die vier Teams aus Ost- und Südosteuropa (Russland, Kroatien, Bosnien, Griechenland).

Teil 6 teilten sich die Nachbarn Argentinien und Uruguay.

Teil 5 gehört 'tschland, dem deutschen Lieblingsnachbarn.

Teil 4 war Frankreich und Algerien gewidmet.

Teil 3 befasste sich mit den vier Teams aus Sub-Sahara-Afrika: Cote d'Ivoire, Kamerun, Ghana und Nigeria.

Teil 2 featured die beiden Vertreter der Benelux-Staaten, Belgien und die Niederlande.

Teil 1: Mutterland & Offsprings, England, USA und Australien.

Die Einträge 2 und 3 gaben erste Antworten auf die zentralen Fragen; Eintrag 1 beschrieb ein Was-wäre-wenn aus österreichischer Sicht.

Das alles im Rahmen des daily blumenau, das seit Oktober 2013 die Journal-Reihe (wie schon das von 2003, '05, '07, 2009 und 2011) abgelöst hat. Mit Items aus diesen Themenfeldern.

Morgen abend geht es los.
Und in den letzten Tagen und Wochen ist noch einiges passiert, was Einschätzungen von davor beeinflussen und anders ausfallen lassen kann.

Und das betrifft nicht nur Verletzungen von Einzelstars. Team Holland etwa hat - wie avisiert - tatsächlich auf ein 3-5-2 umgestellt, nach 50 Jahres des schulemachenden 4-3-3, das von den Niederlanden aus die Welt erobert hat. Das ist in etwa so arg, wie wenn die ÖVP die Homoehe oder die Gesamtschule akzeptiert oder wie wenn Cristiano Ronaldo plötzlich bei Männern beliebt wäre: es ist einfach unerhört. Ganz Holland schäumt, und Louis van Gaal kann sich nicht sicher sein, ob er wieder einreisen darf. Allerdings hat seine Änderungswut ja auch, wie berichtet mit frühzeitig bekanntgewordenen Ausfällen (kein Linksverteidiger und Strootman, schandbarerweise der einzige moderne Sechser, den Holland aktuell hat; der von Van der Vaart hingegen ist völlig Banane) zu tun.

Mancherort sind Systeme eben ein Heiligtum, ein kulturelles Erbe. Der ehemalige ÖFB-Teamchef Constantini, der öffentlich an die Niederlande als Weltmeister glaubt, hat weder das eine noch das andere kapiert noch die Umstellung überhaupt mitbekommen. Aber wozu sich am Bodensatz orientieren, wenn man was über Michael Cox' taktische Preview im heutigen Guardian erzählen kann. Dazu später.

Vorher noch zu den Ausfällen.
Der von Radomel Falcao bei Kolumbien ist mit Ansage/Anlauf passiert - die Mannschaft hatte Zeit sich darauf einzustellen; und Alternativen.

Der von Reus, den die Liga-Kollegen mit großem Abstand zum Spieler des Jahres wählten, wiegt weit schwerer. Zwar vergrößert seine Fußverletzung nicht den Bereich des DFB-Lazarrets, der eh schon unter Dezimierung leidet (die Mittelfeldzentrale; was wiederum die Abwehr schwächt, weil wohl Lahm ins Zentrum gezogen werden muss), sondern die überbesetzte Offensive-Reihe. Trotzdem: Reus war zuletzt der aggressive leader seines Teams; und in dieser Rolle ist er unersetzbar.

Der Ausfall von Franck Ribery wird sich vielleicht stimmungsmäßig niederschlagen (keine Zahnpasta-auf-Türklinken-Scherze und andere Streiche), sportlich wird die Equipe Tricolore aber wahrscheinlich eher durchatmen. Ribery ist einer derjenigen Spieler, die im Nationaldress nie so recht die Klub-Leistung bringen haben können. Da hat sich mittlerweile ein regelrechter Komplex aufgebaut. Der fällt jetzt weg.

Apropos: die argentinische Variante falls Messi ausfällt, ist gefunden. Lavezzi würde die zentrale Rolle übernehmen. Im letzten Test zudem in einer wilden 3-4-3-Formation, die einiges für sich hatte.

Warum Brasilien sowas nie tun würde, ist in dieser Analyse der Feinheiten des durchaus asymmetrischen Angriffspiels der Selecao fein erklärt.

Belgiens an praktisch jeder Position doppelt mit wirklich guten Leuten besetztes Team tat der früh bekanntgewordene Ausfall von Benteke nichts, und auch die Probleme, die Lukaku jetzt hat, beunruhigen keinen.

Der groß als "arg" reportierte Ausfall des russischen Kapitäns Shirokov ist ein Glücksfall - er wäre eh nicht im starting-line-up gewesen.

Weitaus schlimmer ist der Ausfall von il tedesco, Riccardo Montolivo für Italiens Coach Prandelli. Mit dem neben Marchision versatilsten Mittelfeldspieler fällt ihm einer in jede Situation einsetzbarer Jolly Joker aus.

Die Verletzung von Thiago Alcantara, dem heimlichen Taktgeber von Bayern München, zeigt nur, wie unglaublich gut Spanien personell besetzt ist: Thiago wäre wahrscheinlich nominiert worden, hätte aber vielleicht kein Spiel bestritten. Dass Pep Guardiola seinen Kollegen Javi Martinez zum Eher-Innenverteidiger umschulen konnte, hat dem hingegen das Ticket erst gesichert. Das sind echte Luxusprobleme.

Bei Team England sind die Karten so neu gemischt, dass die Probleme um den angeschlagenen Oxlade-Chamberlain eher für kreative Neuansätze sorgen.

Wirkliche Probleme wird Nigeria durch den Ausfall von Linksverteidiger Elderson bekommen; der auch als Stabilisator fürs Gesamtgefüge enorm wichtige Echijechile ist nicht zu ersetzen. Ja, die Linksverteidiger...

Die Wehwehchen von Cristiano Ronaldo haben sich rechtzeitig verflüchtigt; und selbst wenn Uruguays Luis Suarez nicht gleich 100prozentig fit ist: es wird keinen groben Einfluss auf sein Team haben. Müssen sich er und Forlan, der eh nicht mehr als eine Halbzeit kann, halt abwechseln.

Und da wären wir auch schon bei Herrn Cox, den Mastermind von zonalmarking.net dem besten Taktik-Blog der Welt (neben der spielverlagerung.de, deren WM-Preview diesmal irgendwie so spät kam, dass ich sie verpasst habe.

Cox sagt, dass ganz bewusst gesetzte, im Vorhinein genau so strategische Wechsel, vor allem solche bei den Flügelspielern, angesichts der Klima-Bedingungen vor allem im tropischen Norden Brasiliens mitentscheidend sein werden. Klingt nach einem Nona - den vorhin erwähnten Ex-Teamchef aber würde derlei vor unlösbare Probleme stellen.

Ein anderer Punkt ist der in diesem Eintrag schon ein paarmal angesprochenen Linksverteidiger, bzw. deren fehlende Klasse. Cox nimmt nur Alba, Marcelo und Coentrao aus, beanstandet die Qualität von Argentiniens Rojo, Belgiens Vertonghen, kritisiert das niederländische Loch, die deutsche Unkomfortzone und erklärt auch Italiens Rechtsfuß Di Sciglio zur Schwachstelle. In diesem Licht wird klar, warum in den weltweiten Allstar-Teams der großen Abwesenden überall David Alaba aufscheint: auf seiner Position herrscht ein echter Qualitätsmangel.

Cox Tipp für gute Rechtsaußen, die dieses generelle Problem nützen könnten, sind Pedro, Kolumbiens Cuadrado und sein Landsmann Raheem Sterling.

Zum Thema Mittelfeld-Pressing (dem angesagten Ding, das Atletico Madrid die beste Saison seit Äonen brachte) sieht Cox die fitten jungen Teams (Belgien, Schweiz, Holland, Deutschland, auch Algerien) soweit, an das Vermögen von Spanien und Chile anschließen zu können.

Der vielleicht wichtigste Punkt ist aber die Systemflexibilität. Cox sieht dabei Italien als wahren Meister, erwartet sich nicht nur von Chiles Sampaoli sondern auch von der Fünfer-Abwehr Mexikos viel und ist offenbar Fan von Klinsmanns Mittelfeld-Raute, wo jetzt Bradley den vordersten, bislang Donovan vorbehaltenen Mittelfeld-Slot einnimmt.

Auch interessant (danke, Ute!): Cox' Key-Player-Report, der die echten, die emotionalen Taktgeber in den Fokus stellt, also Di Maria und nicht Messi, Oscar und nicht Neymar als Schlüssel erkennt.

Im Wesentlichen hat sich aber nichts geändert. Immer noch ist Brasilien vs Argentinien das most likely-Finale, immer noch sind Spanien und Deutschland die europäischen Favoriten, ist Italien die unberechenbare Wundertüte. Immer noch ist Belgien so sehr jedermanns Geheimtipp, das von geheim keine Rede mehr sein kann. Immer noch gilt das augenzwinkernde Nennen von Chile als Eintritt in den Klub der Zuspätkommer-Taktiknerds. Immer noch sollen Frankreich und Portugal nicht vergessen werden. Immer noch wird Uruguay und Kolumbien aus klimatischen Gründen einiges zugetraut. Immer noch traut man Afrika eher nur Achtelfinal-Plätze zu.

Vielleicht hat sich die englische Tiefstapelei in den letzten Wochen etwas verflüchtigt. Vielleicht sind die schlechten Quali-Leistungen von Mexiko nicht bedeutend. Vielleicht ist Team USA besser als in zahlreichen Tests der letzten Monate. Der Vorab-Hype um Bosnien hat sich erledigt, dafür stehen Kroatien und die Schweiz irgendwie besser da.

Glücklicherweise wird eine der großen Fragen (what the fuck ist da los mit den Niederlanden?) schon am Freitag beantwortet werden. Und da es ab da dann jeden Tag drei Matches geben wird, werden auch genügend neue Erkenntnisse auf uns einprasseln, mehr überraschende als uns als Gewohnheitstieren, die gern gesicherte Vorhersagen hätten und nicht wollen, das sich in unseren inneren Rankings allzu viel verschiebt, lieb ist.
Es wird wie immer verunsichernd, verstörend und zwischen Momenten der Betörung und Befriedigung auch unangenehm widersprüchlich werden, mit anderen Worten: ganz wunderbar!