Erstellt am: 16. 5. 2014 - 18:31 Uhr
Menschenleben oder Geld
Hörtipp: Freitag in der Homebase Europa (19-20:30)
"Schauplatz Athen"
Kein anderes Land war von Krise des Bankensektors so betroffen wir Griechenland. Claus Pirschner berichtet aus Athen über das Leben in der Krise: angesichts von massiven Sparprogrammen und hoher Arbeitslosigkeit beginnen die Menschen in Athen, sich zu organisieren. Von Gratiskliniken, Lebensmitteltauschkreisen und Samaritern in Gestalt von Elektrikern, die für eine "andere" Art der Stromversorgung sorgen.
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- Die Autorin und Journalistin Chrissie Wilkens berichtet in regelmäßigen Abstanden auf fm4.ORF.at über die Situation in Griechenland
- Buchtipp: "Durch die Krise kommt keiner allein. Was Griechenland Europa lehrt" von Christan Rathner, erschienen im Styria Verlag. Das Buch erzählt von Grassroots-Initiativen, die gegen die Krise antreten.
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"Euphorie über Griechenland Comeback!", "Griechenland erzielt Überschuss!"- in den letzten Wochen titeln europäische Medien, das Land am Peloponnes würde sich am Weg der Besserung befinden. Ganz schön verwegene Jubelmeldungen gemessen an der Tatsache, dass in Griechenland mehr als jede/r Vierte keinen Job hat, unter den Jungen sogar an die 60%. Ich habe mich auf den Weg nach Athen gemacht, um mir selbst ein Bild zu machen - zum Beispiel in der Solidaritätsklinik in Helliniko, einem Athener Außenbezirk. Dort arbeiten 250 Ärztinnen und andere Helfende kostenlos, um Menschen ohne Versicherung und Geld zu versorgen.
Drei Millionen Menschen leben in Griechenland mittlerweile unter der Armutsgrenze, ebensoviele ohne Krankenversicherung. Und es kann jeden treffen. Viele hatten gestern eine Arbeit, verlieren sie, fallen aus dem System raus und landen in Helliniko. Im vollen Warteraum sitzt zum Beispiel eine 57-jährige Kindergärtnerin: "Seit ich 2010 arbeitslos geworden bin, habe ich keinen Zugang mehr zum öffentlichen Gesundheitssystem. Deshalb komme ich hierher, um untersucht zu werden, um Medikamente zu bekommen. Nur weil ich hierher kommen kann, fühle ich mich ein bisschen sicher, ansonsten fühle ich mich hier in Griechenland im Stich gelassen."
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In der Sozialklinik von Helliniko erhalten die PatientInnen medizinische Erstversorgung, Operationen können nicht durchgeführt werden. Auch 35 ZahnärztInnen sind hier im Einsatz: Marouli Diamantoula ist eine von ihnen: "Viele öffentliche Zahnkliniken wurden geschlossen. Die privaten Ordinationen können sich die meisten nicht leisten. Und in der Krise kommt ein Zahnarztbesuch bei den Menschen am Schluss, da gibt es andere Prioritäten. Ein paar öffentliche Ambulatorien sollen nun wieder aufmachen, aber das deckt den Bedarf bei weitem nicht."
Widerstand und nicht Ersatz
Mittlerweile gibt es vierzig Sozialkliniken in ganz Griechenland. Aber auch 80 würden nicht ausreichen und außerdem brauche es eine andere Lösung, sagt der Kardiologe Giorgos Vichas, der diese erste Athener Solidaritätsklinik 2011 mitgegründet hat. Die Ehrenamtlichen wollen mit ihrem Engagement Widerstand gegen die Gesundheitspolitik der Regierung und den internationalen Sparzwang leisten. Sie wollen die öffentliche Gesundheitsversorgung nicht ersetzen - die soll wiederaufgebaut werden: "Wann dieser Richtungswechsel kommt, kann ich nicht sagen. Jetzt sehe ich große gesellschaftliche Veränderungen. Immer mehr Leute solidarisieren sich und werden sich immer bewusster, dass sie an politischen Entscheidungen stärker zu beteiligen sind."
Erst vor kurzem war Giorgos Vichas in Hamburg und hat von der Athener Sozialklinik erzählt. Daraufhin wurde auch in Deutschland eine initiiert, weil in Hamburg 14000 Menschen unversichert sind. Giorgos möchte auch mit der Sozialklinik Ambermed in Wien in Kontakt treten, als ich ihm von deren Existenz erzähle.
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Versuchskaninchen Europas
Schließlich spreche ich in der Athener Solidaritätsklinik mit Christos Sideris, den ich seit zwei Jahren regelmäßig treffe und frage wie er die Entwicklungen in Griechenland erlebt und wie es den Menschen ergeht. Er hat diese erste Sozialklinik in Athen mitinitiiert. "Menschen können in die öffentlichen Spitäler gehen, aber sie müssen dafür zahlen und können sich auch die Medikamente nicht leisten und als Folge davon sterben Menschen." Was hält er von den internationalen Schlagzeilen, dass es mit Griechenland angeblich wieder aufwärts geht? "Wir fühlen das nicht hier. Wir sehen nichts davon. Wären wir an einem Wendepunkt, dann sollte doch der Zustrom in die Sozialklinik abnehmen, aber es werden immer mehr."
Im ersten Jahr sind 4000 PatientInnen gekommen, jetzt suchen 1500 pro Monat Hilfe in Helliniko. Der Alltag in der Klinik macht die humanitären Krise in Griechenland deutlich. Christos hat gerade mit einer Freundin gesprochen und sie versucht davon abzuhalten aus Verzweiflung über ihre wirtschaftliche Lage Selbstmord zu begehen. Die Suizidrate ist seit der Krise in die Höhe geschnellt. "Tag für Tag begegne ich KrebspatientInnen ohne Therapie, ohne Medikamente. Es ist wie ein Genozid. Es scheint, als wollen sie alle Menschen loswerden, die etwas kosten. Wir haben Menschenleben in der einen Hand und Geld in der anderen.Was ist wichtiger?"
Erst im Dezember hat sich der griechische Staat zu einer weiteren, 8 Milliarden Euro schweren Haftungsgarantie für zwei Banken verpflichtet, um sie zu retten. Mit einem Zehntel davon könnten alle drei Millionen GriechInnen unter der Armutsgrenze krankenversichert werden. Christos ist überzeugt davon, dass Griechenland zum Versuchskaninchen Europas geworden ist: "Hier findet ein großes Experiment statt. Gerade haben sich die Gesundheitsminister der EU in Athen getroffen. Gesundheitsausgaben sollen EU-weit gekürzt werden. Das ist lächerlich in einer Wirtschaftskrise, durch die es viel mehr hilfsbedürftige Menschen gibt als zuvor. Worum geht's hier? Die EuropäerInnen müssen darüber nachdenken. Wir müssen verlangen, dass diese Politik gestoppt wird. Sie wird ja mittlerweile auch in anderen europäischen Ländern umgesetzt."
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