Erstellt am: 30. 4. 2014 - 15:46 Uhr
Das Flimmern fassen
Crossing Europe
Das Filmfestival für zeitgenössisches und europäisches Kino, vom 25. bis zum 30. April 2014 in Linz.
Wann werden Bilder zu Geschichten und News relevant? Seit 2011 ist Ägypten beinah täglich in den Schlagzeilen. Erst gestern rief die mittlerweile verbotene Muslimbruderschaft zur Revolution auf, vor wenigen Tagen verurteilte ein Gericht binnen 15 Minuten 683 Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi zum Tod und in einem Monat sind erneut Präsidentschaftswahlen in Ägypten. An der Macht ist das Militär. Die Schweizerin Alexandra Schneider verfolgt die Nachrichten aus dem nordöstlichen afrikanischen Staat seit die Demonstrationen im Februar 2011 auf dem Tahrir-Platz für internationale Medien unübersehbar wurden. Wie wir alle erfährt sie in prägnanten Sätzen von den Vorgängen. Doch Alexandra Schneider ließen die Nachrichtenbilder von Frauen, die sich Hand in Hand Polizisten entgegenstellten, nicht mehr los. Wer sind diese Frauen und woher nehmen sie ihren Mut?
Nicht schon wieder Ägypten, könnte man denken. Doch damit würde man ein Stück Film auslassen, das die Dinge zusammenfügt. Das dem Flimmern verpixelter Handyaufnahmen von Protesten Erklärungen nachreicht, die man nicht missen sollte.
Alexandra Schneider reiste nach Ägypten und filmte die wunderbare Doku "Private Revolutions". Das Private ist politisch: Diese Einstellung trifft auf jene vier Ägypterinnen Sharbat Abdallah, Fatema Abouzeid, Amani El Tunsi und May Gah Allah zu, die Alexandra Schneider zwei Jahre hindurch begleitet hat. Vier Frauen, die in ihrer Eloquenz und Haltung beeindrucken und unterschiedlicher doch nicht sein könnten.
Daniela Praher Filmproduktion
Derart nah und politisch und großartig
"Private Revolutions" läuft am Mittwoch um 16.00 Uhr, noch einmal in Linz
Sharbat Abdallah öffnet ihre Handtasche und zeigt, was sie stets dabei hat. Eine Atemschutzmaske für Mund und Nase, Vaseline gegen Tränengas, eine Schere zur Abwehr im Fall männlicher Übergriffe. Mit kleinen Buben zieht sie in die Proteste, nur widerwillig akzeptiert das ihr Mann. Der Vater von Fatema Abouzeid ist bei der Muslimbruderschaft und saß mit Mohammed Mursi ein, auch Fatema ist aktiv bei den Muslimbrüdern und die dreifache Mutter macht ihren Master in Politikwissenschaften. Amani Eltunsi hat ihre eigene Radiostation "Banat w Bas" gegründet, es ist der erste Sender im Nahen Osten "for girls only". Unmittelbar nach der Vereidigung von Mohammed Mursi zum Präsidenten am 30. Juni 2012 steht sie in einer abgebrannten Buchhandlung, fotografiert ihre verkohlten Bücher mit dem Mobiltelefon. Fatema Abouzeid ist für die Filmemacherin nicht mehr erreichbar. Erst wollte die Muslimbruderschaft ihre Rechteerklärung am Filmprojekt sehen, danach bricht der Kontakt ab. Ihre Hochzeitspläne hat MayGah Allah aufgeschoben. Die Tochter einer Banker-Familie dachte eines Abends, was, wenn Gott wissen wollte, was sie getan habe? Ihren Job in der Bank gibt sie auf, wird Sozialarbeiterin für Nuba.
Daniela Praher Filmproduktion
"Private Revolutions" entrollt den Zustand eines Landes in Aufruhr in höchst persönliche Zonen, mit einer ruhigen, schönen Kameraarbeit und ohne das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Die Implikationen der Umbrüche verdichten sich zu einem Bild Ägyptens, das einem in der Erzählung gefehlt hat. Eine Revolution für die Geschichtsbücher hätte es werden sollen, sagt ein junger Mahragan-Musiker in der Doku "Electro Chaabi". In "Private Revolutions" kommt mit seinen beeindruckenden Frauen weit mehr zum Tragen.
Die Doku wurde mit dem erstmals vergebenen Crossing Europe Social Awareness Award ausgezeichnet. Den Hauptpreis am Crossing Europe 2014 - über 10.000 Euro gestiftet von Linz Kultur und dem Land Oberösterreich - teilen sich zwei Filmemacher: Thierry de Peretti für "Les Apaches" und Liliana Torres für "Family Tour". Letztgenannter handelt vom frustrierenden Besuch einer, die auszog und Familie und Verwandtschaft hinter sich ließ. Es wird getratscht, doch nicht geredet. Die Belanglosigkeit manifestiert sich leider. Aufwühlend und regelrecht verstörend ist "Las Apaches".
Bloß Jugendliche, denen fad im Hirn ist?
Die Geschichte von "Les Apaches" ist inspiriert von einem tatsächlichen Fall: 2006 erschießen Jugendliche einen 14-Jährigen, der ihr Freund war, nach einem Einbruch in das Haus eines Franzosen vom Festland. Aus Angst, der Jüngste von ihnen könnte die anderen bei der Polizei verraten.
Der Film "Les Apaches" sei wie eine Zwiebel: nach und nach kommen neue Schichten zum Vorschein, bis der Kern sichtbar ist. Diese Metapher fällt einer Zuschauerin nach der Österreich-Premiere von "Les Apaches" am Crossing Europe ein. Trotz all seiner Vielschichtigkeit ist "Les Apaches" eine Anspannung, wie ein guter Thriller - bei all den Problemen, die Regisseur Thierry de Perretti hinein verwebt, hervorragend nüchtern. Auf Korsika herrschen nach wie vor mafiöse Verbindungen und Strukturen. Die Gewalt wird an die junge Generation tradiert. Blutrache bei kleinsten Vergehen sei nicht selten. Die Angst, ermordet irgendwo am Straßenrand verscharrt zu enden, halte die Menschen davon ab, zur Polizei zu gehen. "Les Apaches" zeigt die Ferieninsel Korsika von ihrer anderen Seite.
Crossing Europe
Eine arabische Familie putzt ein Ferienhaus. In der Nacht nach einer Party kehrt der Sohn in das Anwesen zurück mit Freunden. Mit Laiendarstellern, die er in Straßencastings gefunden hat, drehte Thierry de Peretti sein Spielfilmdebüt "Les Apaches" auf Korsika. Die Jugendlichen arbeiten heute als Schauspieler in Paris, bis auf einen, der Fleischhauer geworden ist, und doch zufrieden sei, sagt Drehbuchautor Benjamin Baroche in Linz. Auf Korsika würden die Nachfahren marokkanischer EinwanderInnen diskriminiert. Der Film war für die beteiligten Jugendlichen eine Kehrtwende.
Die Liebe im Zeitalter der Webcam
Auch "Long Distance" ist am heutigen Mittwoch noch einmal zu sehen
Der Publikumspreis geht an den recht unspektakulären, doch in seiner Psychologie sehr fein erzählten "Long Distance" des jungen Regisseurs Carlos Marques-Marcet. In den ersten zwanzig Minuten und in einer Szene durchlebt ein Paar beim Sex und in den Momenten danach all das, was folgen wird: Ein Wechselspiel der Gefühle.
Crossing Europe
Die Britin Alex lebt mit dem Spanier Sergi seit sieben Jahren in seiner Heimatstadt. Das Paar hat sich eingerichtet. Bis die Fotokünstlerin doch auch noch ein Artist-in-Residence-Stipendium in Los Angeles zugesprochen bekommt, die Künstlerfreunde sind längst in anderen Städten und haben Erfolg. 10.000 Kilometer trennen kurzum ein binationales Paar. Doch Fernbeziehungen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren.
"Long Distance"mit diesem langweiligen neuen Titel (Original war "10.000 KM") ist ein Kammerspiel, dieses Los Angeles bekommt man nur auf Fotos zu sehen, die Alex schießt und via Webcam ihrem Sergi zeigt. Die Technologie als Dritte im Bunde hat die Hauptrolle. Die Beiden kochen, essen, tanzen, schlafen, haben Sex mit ihren Laptops, mit eingeschalteten Kamerascreens in den Händen. Die Tyranei der Distanz scheint aufgehoben. Psychische Nähe ist verfügbar, sobald die Geräte an sind. Aber allmählich drehen sich die Gespräche nur noch über die Beziehung und die physische Nähe hat den Preis eines Flugtickets.