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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

8. 3. 2014 - 19:54

Der Krieg hört nie auf

Mit "Das große Heft" wurde der berühmteste Roman von Ágota Kristóf verfilmt. Aus diesem Anlass eine Verbeugung vor der beklemmenden Ausnahmeautorin.

Aufgesetzte Provokation sucht man in ihrem Werk vergeblich. Lautstarkes Geplärre hat Ágota Kristóf nie interessiert, Kontroversen und dezitierte politische Diskurse verweigerte sie. Und trotzdem sind ihre Bücher kristallklare messerscharfe Statements.

Ágota Kristóf

Rotbuch

Ágota Kristóf

Kristóf verfasste kompromisslose Antithesen zur selbstverliebten, konstruierten, verschnörkelten Gegenwartsliteratur. In kurzen, bewusst schlichten, grausam lakonischen Sätzen berichtet sie von den allerdunkelsten Dingen: Entwurzelung, Entfremdung, Einsamkeit.

Ágota Kristóf wird 1935 in einem kleinen Dorf in Westungarn geboren, der Krieg zerüttet bald die kindliche Existenz. Auf den Nazi-Terror folgt nahtlos der Stalinismus, die Verhaftung des Vaters, die Trennung vom geliebten Bruder. Das Lesen und später das Schreiben werden zu Überlebensmitteln für die kleine Ágota. Und das gilt auch für die erwachsene Frau und Mutter, nach der Flucht über die Grenze und in die französischsprachige Schweiz.

Im Exil müht sich Ágota Kristóf mit der neuen Sprache ab, sie wird zur "Analphabetin", wie ein späteres Buch von ihr heißt. Gleichzeitig zwingt sie sich mit einer Konsequenz, die gar nicht zum resignierten Grundton mancher ihrer Werke passt, zum Verfassen von Texten. In der Feindessprache, wie sie sagt, entsteht ihr erster Roman "Le Grand Cahier" - "Das große Heft".

Das große Heft

Stadtkino Verleih

Das große Heft

Abhärtungen und Erniedrigungen

Der Roman liest sich wie einerseits wie eine kalte und jegliche Poesie verweigernde Tatsachenbeschreibung, andererseits wie ein Kinderbuch aus der Hölle. In den Wirren eines nicht näher definierten Weltkriegs bringt ein überfordertes Elternpaar seine Zwillingssöhne aufs Land. Bei der Großmutter sollen die Buben Unterschlupf finden. Dabei entfaltet sich bei der grimmigen alten Menschenhasserin, die im Dorf "Hexe" genannt wird, eine andere Art von Horror.

Die Buben müssen betteln, hungern, stehlen, um zu Überleben, werden von Erwachsenen psychisch und physisch missbraucht. Die einzige Fluchtmöglichkeit während die ungarische Landschaft in einem eisigen Winter versinkt: Alle Erniedrigungen tragen sie akribisch in ein Notizbuch ein, in das große Heft.

In bewusst schlichten Sätzen, die Wort für Wort weh tun, schildert Ágota Kristóf aus der Sicht der Zwillingsbrüder deren Abhärtungen und Rituale, wie sie sich Liebe und Empathie austreiben, um mit dem Schrecken umgehen zu können. Momente der Autobiografie und knochenharte Fiktion verschwimmen in dem Meisterwerk "Das große Heft" zu einem trostlosen Märchen, dass seinesgleichen sucht.

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Schreiben als langsamer Suizid

1986, mit 51 Jahren, mutiert Ágota Kristóf zum Literaturstar. "Das große Heft" wird in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und mit Preisen überhäuft. Vom Rampenlicht und den Medien hält sich die introvertierte Frau aber fern. Die Leere, die Fremdheit, die Verbitterung bleiben Schlüsselthemen. Agota Kristof schreibt die Geschichte der Zwillinge Lucas und Claus weiter.

"Der Beweis" und "Die dritte Lüge" heißen die beiden Fortsetzungen von "Das große Heft". Der Krieg hört darin im inneren der Figuren nie auf, die Geschichte verwandelt sich zur existentialistischen Trilogie der absoluten Isolation. Irgendwann verlieren die Sätze jeden realistischen Boden unter den Füßen, höchstens die paranoiden Visionen von Franz Kafka fallen einem als Vergleich ein.

"Gestern", "Die Analphabetin" und "Irgendwo" heißen die weiteren schmalen Bücher von Kristóf, die sie sich mühsam abringt. Im ersteren Werk erzählt sie von einem Fabriksarbeiter im Exil, der auf Suche nach seiner einzigen großen Liebe so scheitert, dass es einem nicht das Herz bricht, sondern es komplett demontiert. "Schreiben ist ein wenig selbstmörderisch", sagt die Autorin einmal in einem Interview, "es tötet ein bisschen."

Das große Heft

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Das große Heft

Ambitioniert in den Abgrund

Kinogeeignet wirken die brutalen und resignativen Werke von Ágota Kristóf nur an der Oberfläche, in Wirklichkeit entzieht sich gerade die knappe karge Sprache der Visualisierung, weil die Wahrheiten zwischen den Zeilen zu finden sind. Der ungarische Regisseur János Szász bemüht sich trotzdem um die Rechte für "Das große Heft". Und er holt sich den persönlichen Segen der Autorin.

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Szász versucht in der europäischen Koproduktion, bei der österreichische Produzenten maßgeblich beteiligt sind, vor allem die entsprechenden Bilder zu finden. Michael Hanekes großartiger Stammkameramann Christian Berger ist dabei eine große Hilfe. Auch die Besetzung, allen voran die für den Film entdeckten Zwillinge András und Laszlo Gyemant, arbeitet hart, um Ágota Kristóf gerecht zu werden. Das Vorhaben glückt zum Teil.

Wie beim durchaus vergleichbaren Roman-Monument "The Road" von Cormac McCarthy und dessen Leinwandadaption durch John Hillcoat merkt man zwar die ehrliche Ambition von János Szász. Das atemlose Grauen der Buchvorlage erreichen beide Filme allerdings nur stellenweise. Ganz für sich allein betrachtet erweist sich "Das große Heft" aber als bedrückender Blick in den Abgrund.

Literaturempfehlungen und Schriftstellerporträts auf

Der Film rückt auch die Aufmerksamkeit wieder auf die Autorin, die die Premiere leider nicht mehr erlebt hat. Ágota Kristóf, die Grande Dame des Pessimismus, stirbt 2011 mit 75 Jahren. Sie bleibt unverrückbar eine Ausnahmeerscheinung in der Literaturwelt. Manchmal ist stille Verweigerung eindringlicher als der lauteste Lärm.

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