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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

31. 12. 2013 - 13:10

Human After All

Rewind 2013, The Year in Music Teil 2. Abstraktion, Architektur, Elektronik. Und: 30 Alben des Jahres.

2013 war Kanye West unter anderem Steve Jobs, William Shakespeare, Michael Jordan und Andy Warhol. Laut Kanye West. Abgesehen davon, dass West mit "Yeezus", seinem sechsten Album, im vergangenen Jahr eine bahnbrechende, eine großartige, eine lächerliche, eine oft äußerst unangenehme Platte veröffentlicht hat, die die Vorstellungen von Pop und HipHop aber so was von locker hinter sich lässt, hat der selbsterkorene Polymath dieses Jahr wieder viele bemerkenswerte Dinge getan: Die Tatsache, dass er an der Harvard University’s Graduate School of Design einen Vortrag über Architektur gehalten hat, war da für Kanye-West-Verhältnisse vielleicht gerade nur mehr ein klitzekleines bisschen überraschend. "I really do believe that the world can be saved through design, and everything needs to actually be 'architected,'" soll West zu den Studenten gesagt haben. Großer Quell der Inspiration für "Yeezus" soll eine Lampe von Le Corbusier gewesen sein.

Dass West sich längst nicht mehr als schnöden Musiker oder Handwerker begreift, sondern als Architekten, Bauherren, als Kurator und Großkünstler, ist ebenso erfreulich und unterhaltsam wie nicht mehr von allzu hohem Neuigkeitswert. Und berechtigt. 2013 war das aufsehenerregendste Jahr in Wests nicht eben windstiller Karriere. Mit "Yeezus" hat er aus Fundstücken aus eher sperrigen Territorien wie Noise, Acid House, Industrial, Digitaler Dancehall oder Prog-Rock ein neues Fundament für HipHop errichtet. In den Texten gab es auf "Yeezus" eine nie gehörte Verschränkung von maßloser Selbstüberschätzung, Geschichtsbewusstsein, Sex und Bürgerrechtsbewegung zu erleben. Das ist nicht immer schön.

Freilich wurde West bei all dem von einer Heerschar von Produzenten, Künstlern und Einflüsterern wie Rick Rubin und Daft Punk oder auch neuen Talenten aus dem Untergrund wie Evian Christ oder Arca zugearbeitet. Unter großem Aufschrei hat West "Strange Fruit", den unantastbaren Klassiker, der Rassismus und das Lynchen von Afro-Amerikanern thematisiert, in eine Art Lovesong eingepasst.

Die große Kunst des Kanye West ist die der Umwertung und das Erzeugen von Unbehagen. Im hervorragenden Video zu Wests Song "Bound 2" sehen wir: Purpurn fließende, weite, weite, unendliche Himmel, wilde Pferde in wilden Wassern, der mächtige Adler spannt seine Wingen. Sie können ihn überall hintragen. Ein Mann und seine Maschine. Eine Airbrush-Fantasie, eine Studie in Hyperrealismus, ein Werbeclip für Parfüm und Hygiene-Produkte. Diese Bilder und Symbole, so können wir durch das Genie Kanye West erfahren, gehören nicht mehr bloß dem weißen US-Amerika.

Der größte Coup von Daft Punk war 2013, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des zukunftsverheißenden Roboter-Images den Begriff von Tanzmusik von jeglicher elektronischer Konnotation zu befreien – insbesondere in Zeiten, in denen aber auch schon wirklich jeder über EDM zu schimpfen in der Laune ist - und wieder in Hand von echten, lebendigen Musikern aus Fleisch und mit Herz zu legen. Und so mit einer durchschnittlichen bis stellenweise sehr, sehr guten Platte in jede Gazette dieses Planeten einzuziehen.

Die Herstellung neuer emotionaler Erlebnisse, die gut mit einem dieses Jahr insgesamt neu erstarkten Interesse an New Age und Esoterik einhergeht, ist dem New Yorker Produzenten und Scharlatan-Theoretiker Daniel Lopatin durch eine besonders dreiste – und auch ganz wichtig: überdeutlich so ausgeschilderte – Umwidmung elektronischer Signale gelungen: Auf dem neuen Album seines Projekts Oneohtrix Point Never bemüht Lopatin fast ausschließlich schon besonders gut abgegraste und übel beleumundete Soundquellen: Billige Presets aus dem billigen Synthesizer, die gemeinhin schon vornherein vom Nimbus des "Künstlichen" besetzt sind, Klingelton-Musik, Nebenbei-Muzak aus der Shopping-Mall, glitschig-schleimige Soundtracks aus Fernseh-Verkaufsshows, digitale Choräle, die sonst immer dann zum Einsatz kommen, wenn Dokumentationen über alte Abteien vertont werden sollen, Alarm-Sirenen. Gebrauchsanleitungen und ähnliches lebloses Texmaterial hat Lopatin von Computerstimmen einlesen lassen.

30 Alben des Jahres:

30 Huerco S. – Colonial Patterns

29 King Krule - 6 Feet Beneath The Moon

28 Danny Brown – Old

27 Bill Callahan – Dream River

26 Jessy Lanza – Pull My Hair Back

25 Glasser – Interiors

24 Chance the Rapper – Acid Rap

23 Jai Paul – Leaked Demos

22 Savages – Silence Yourself

22 DJ Rashad – Double Cup

21 Sky Ferreira – Night Time, My Time

20 Run The Jewels – Run The Jewels

19 The Haxan Cloak - Excavation

18 Kurt Vile – Wakin On A Pretty Daze

17 bEEdEEgEE – SUM/ONE

16 Maxmillion Dunbar – House of Woo

15 Deafheaven - Sunbather

14 Galcher Lustwerk – Blowing Up The Workshop

13 Dean Blunt – The Redeemer

12 Haim – Days Are Gone

11 Stellar Om Source – Joy One Mile

10 Oneohtrix Point Never – R Plus Seven

9 Arcade Fire - Reflektor

8 These New Puritans – Fields of Reed

7 V.A. – Livity Sound

6 Tocotronic - Wie Wir Leben Wollen

5 Holden - The Inheritors

4 Kanye West - Yeezus

Julia Holter Loud City Song

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3 Julia Holter - Loud City Song

Vampire Weekend

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2 Vampire Weekend - Modern Vampires of the City

Amygdala

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1 DJ Koze - Amygdala

All dieses meist hyperostentativ mit den Schlagworten "Konsum" und "Entmenschlichung" versehene Material hat er kleingehackt, manipuliert und zu einer beunruhigenden, extrem kleinteiligen und zerfaserten Collage aneinandergearchitektet. Immer wieder erwecken die auf der Platte namens "R Plus Seven" aufflackernden und flatternden Töne und Geräusche Assoziationen bezüglich ihrer Herkunftsorte und ursprünglichen Einsatzgebiete. Daniel Lopatin hat eine Platte aufgenommen, die die Künstlichkeit von Musik ausstellt und Musik fast gänzlich ihrer Intentionen beraubt hat. Ganz ist Lopatin dies aber nicht gelungen – man kann über "R Plus Seven" nämlich nicht bloß nachlesen und grübeln, sondern dieses Album auch sehr gut hören. Eventuell als alternativen Soundtrack zu "Spring Breakers", dem Film des Jahres, als Ton gewordene Welt aus Gummi und Zwangs-Euphorie.

Der große Freund des Obskuren und der Abstraktion Dean Blunt hat mit "The Redeemer" sein bislang eingängigstes, poppigstes Album zusammengebaut. Unter großzügigem Einsatz von Samples – beispielsweise und sehr prominent: K-Ci & JoJos Schmalztopfhit "All My Life" – entsteht hier ein skizzenhaftes, von Streichern, Bläsern und weihevollen Chören aus dem Rechner durchsetztes Break-Up-Album, das die großen echten Gefühle des Lebens und der Liebe gegen die Technologie ausspielt. Und das immer wieder von Einschüben, Interludes und den Sounds der Maschinen unterbrochen wird: Autohupen, Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, die besagen, dass jetzt aber wirklich alles vorbei ist mit der Liebesbeziehung. Die New Yorker Musikerin Glasser vereinte derweil auf ihrem passend betitelten Album "Interiors" Cyborg-Soul, Songs über Design, Inneneinrichtung und die chrom-blitzende Architektur der Großstadt mit Natur-Poesie und Mystizismus. Es gibt nur ein falsches Leben im falschen.

Während anderswo die große Macht der Kunstform "Album" als sinnstiftende Gesamteinheit hochgehalten wurde, war 2013 also freilich genauso das Jahr des scheinbar beiläufig Aneinandergestöpselten und Geschichteten, des Fragmentarischen, des Hingekritztelten. Das bloß komisch Montierte, Zusammengetragene, Angehäufte und frei Fließende. Ein Album des Jahres ist gar kein Album – und findet sich dennoch in vielen Best-Of-Listen wieder: Eine unaufgeräumte und unfertige Demo-Sammlung des englischen Producers Jai Paul, die - angeblich - ohne Wollen und Zutun des Künstlers per Leak ihren Weg in die Welt gefunden hat.

Neue Dimensionen der Organisation hat Geheimniskrämer Burial mit seiner kurz vor Weihnachten wieder einmal aus dem Nichts erschienenen EP "Rival Dealer" betreten. In gut 30 Minuten Spieldauer gibt es hier eine lose gewobene Klanganordnung aus Field Recordings, Sprach-Samples, Jungle, Hardcore Rave, Garage, Geister-Stimmen, Regengeplätscher und Rauschen zu erleben, die der Erfahrung eines willkürlichen Switchens durch die nur allerbesten Pirate Radio Stations vergangener Tage ähnelt. Esoterische Enya-hafte Gesänge und Flöten sind ebenso zu vernehmen. Medium, Mittel, Botschaft und Massage.