Erstellt am: 28. 12. 2013 - 18:27 Uhr
Eine Rose ist eine Rose
Der tatsächlich mit den Händen greifbare Tonträger, so dürfen wir ständig hören, ist also längst bloß noch Artefakt. Ein unnatürlich und mittlerweile unnötig mit Bedeutung und Information beladener Gegenstand, eine blöde Scheibe Kunststoff, ein Ding, das seine ursprüngliche Aufgabe, nämlich den Ton in die gute Stube zu tragen, fast nur mehr beiläufig erfüllt.
Vielmehr ähneln schwere und üppig aufgemachte Vinyl-Editionen – abgesehen vom vielfach besseren audiophilen Erlebnis, ja, ja - oder opulent geschmückte 40-teilige CD-Box-Sets in ihrer Funktionsweise heute Coffeetable-Books, dienen der Repräsentation oder thronen Souvenirs gleich als Portale der Erinnerung im Regal. Auch die herkömmliche CD ohne Glöckchen dran tut dies, bloß weniger glamourös. Das wissen wir. Der Tonträger wird nicht länger als Gebrauchsgegenstand verkauft, sondern als Kunstwerk.
Kanye West
Weil aber das Trägermaterial immer mehr an Bedeutung verliert, muss nicht gleich das Frachtgut leiden. Dass seinerzeit, zu Zeiten ihrer Entwicklung, die Compact Disc mit der Spieldauer, die sie eben hat, ausgestattet wurde, war nicht zu unbedeutenden Teilen in Norio Oghas, dem damaligen Präsidenten von Sony, großer Liebe zur Oper und zur klassischen Musik insgesamt begründet: 60 Minuten Laufzeit, so Ogha, wären zu kurz, um Beethovens 9. Sinfonie zu fassen, mit rund 75 Minuten pro CD wären viele der wichtigsten Opern immerhin sinnvoll zu portionieren.
Der Idee, dass jegliche Hörgewohnheit nach dem Prinzip der Zersprageltheit organisiert ist oder sein muss, alles eine komplett zufällig zusammengewürfelte Playlist und Randomness, wurde 2013 nicht unbedingt versucht entgegenzuwirken, ihr jedoch liebevolle, altmodische Alternativen gegenübergestellt und als solche deutlich ausgeschildert. Es war ein wunderhübsches Aufbäumen und Ringen, noch einmal das Konzept des "Albums", des von Künstlerseite bewusst mit Rahmung versehenen "Werkes", mit strahlender Kraft zu betanken. Man soll es nicht vergessen: Für ältere Menschen ist das selbstverständlich. Die Tatsache, dass bei aller Wertschätzung eines gedachten Gesamtzusammenhangs Stücke immer schon geskippt, vorgespult oder Lieblinge viermal hintereinander gehört wurden, ebenso.
Mit großem Pomp wurde 2013 die Ankunft einiger Alben als großes Spektakel inszeniert - da die Tatsache alleine, wie’s scheint, nicht mehr auszureichen vermag. Arcade Fire, Kanye West, Boards of Canada, Daft Punk. Abseits eines üblich gewordenen Teaser-Clips-Wahnsinns im Netz wurden hier auch immer wieder punktuelle Aktionen außerhalb des Digitalen gesetzt, die als echte Events von – vergleichsweise - einigen wenigen in der echten Welt miterlebt werden konnten. Eine Schnitzeljagd, die besonders Aufmerksame und Muntere, zu einem mysteriösen Treffen in die Wüste führte, Projektionen an Hauswänden, nicht allzu geheime Geheimauftritte, die Erstausstrahlung weniger Sekunden von "Get Lucky" beim Coachella Festival.
Gut, dass hinter den grellen Kampagnen jeweils auch ein sehr gutes, ein welterschütterndes oder ein immerhin solides Album standen. Trent Reznor, der dieses Jahr ebenfalls mit einem sehr guten, wenn auch braven Album seiner Nine Inch Nails zurückgekehrt - und selbst dem Erproben neuer Marketingwege nicht fremd - ist, stand dem Zuviel an Brimborium mürrisch gegenüber. So hatte Reznor hinsichtlich der Materialschlacht von Arcade Fire folgendes zu sagen: "OK, I get it. You've got an album out, you've played every TV show in the world."
So gab es also genauso wie die schon lange im Vorfeld glühenden PR-Feuerwerke die Überrumpelungen von David Bowie - gut dokumentiert großer Held Reznors und Gaststimme bei Arcade Fire - sowie von Beyoncé, die aus von langer Hand geplanter Beiläufigkeit großen Impact generierten. In einem Interview vor drei Jahren meinte LCD-Soundsystem-Kopf James Murphy, der bekanntlich dieses Jahr für neue Luft im Hause Arcade Fire gesorgt hat, er möge die Idee von "Formaten": Ob 12“, 7“, Album, EP – die eine Formatierung sei der anderen vom Wesen her zunächst einmal nicht vorzuziehen. Man möge sich jedoch zur jeweiligen Darreichungsform so seine Gedanken machen und als das verstehen, was sie ist.
Haim
Die wichtigste – was nicht immer, in vorliegendem Falle aber öfter als nicht heißen muss: beste – Band des Jahres war dieses Trio aus Los Angeles, dessen Namen mittlerweile deine, eventuell auch schon meine Mutter richtig aussprechen kann. Haim. Haim. Ein Name, ein Statement. We are Family. Nicht nur der Titel von Haims Debütalbum beschwört die Geister der Vergangenheit: "Days Are Gone" heißt die Platte, hier wird aber nicht tranig-nostalgisch bejammert, dass wohl früher alles besser gewesen sein mag, sondern die Idee eines identitätsstiftenden oder auch bloß das Leben schön begleitenden Classic Rock, der eventuell auch der eigenen Existenz Bonus-Bedeutung vorzugaukeln im Stande ist, in die Gegenwart überführt.
Für diejenigen, denen so etwas immer noch besonders wichtig ist, gibt es in Gestalt der Gruppe Haim drei Musikerinnen zu erleben, die das von frühester Jugend mitbekommen haben und das eben auch können: Die Instrumente beherrschen. Gleichzeitig verbinden die drei Schwestern Haim den fließenden Rock’n’Roll der mittleren Fleetwood Mac mit dem R’n’B der jüngeren Vergangenheit; digitales Geschmeide, weich sich umschmiegende Girl-Group-Gesänge, Blues-Rock, rhythmisches Gestampfe auf der Holzveranda – ein Modell für die Gegenwart und die Zukunft; eine Band, die alles hat, die Lieder, den Witz, die Aura – auch wenn "Days Are Gone" noch nicht ganz von vorne bis hinten perfekt ist und manchmal dann eben doch auch ein wenig auf die Maxime möglichst vieler Andockmöglichkeiten für möglichst viele Menschen hinkonstruiert scheint.
Sieht man einmal von den hervorragenden Songs (neben den schon bekannten Hits "The Wire", "Forever" oder "Falling" höre man beispielsweise das wunderbare "My Song 5" oder das Titelstück) ab, die sich Este, Danielle und Alana Haim für ihre Platte ausgedacht haben und die bis in weite Zukunft nur die schönsten Mixtapes und Kuschelrock-Compilations schmücken sollen – dafür, dass "Days Are Gone" so klingt wie es klingt, ist über weite Strecken der kalifornische Produzent und Multiinstrumentalist Ariel Rechtshaid verantwortlich gewesen. Er hat das Album – neben u.a. James Ford von der Simian Mobile Disco – im Studio an den Reglern betreut. Rechtshaid, der viel zitierte - auch an dieser Stelle - Strippenzieher des Jahres.
Mit Usher, Blood Orange oder No Doubt hat Rechtshaid bereits zusammengearbeitet (letztere dürfen dabei als besonders symptomatisch für Rechtshaids Soundverständnis verstanden werden), allein 2013 hat er unter anderem die wichtigen Alben von Charli XCX, Vampire Weekend, Sky Ferreira und eben Haim zu großen Teilen mitgestaltet. Dem allzu Glatten vermag er einen Hauch des Gefährlichen zu verpassen, das Rohe, Wilde macht er gefügig. Man kann ihn als Schergen der Beliebigkeit sehen, ebenso als raffinierten Brückenbauer.
Tatsächlich entsteht unter seiner Ägide meist Pop-Musik, die im allerbesten Sinne Popmusik ist und so aufreibend klingt wie lange nicht mehr: Eingängig zwar, tanzbar und supercatchy, gleichzeitig aber meint man in dieser Musik auch einmal wieder Wissenswertes und Brenzliges über uns und unsere Leben erfahren zu können, Optionen, Identifikationsmodelle, Risikobiografien. Hier bewegt sich etwas unangenehm unter der Oberfläche.
In dieser Hinsicht ist das Debütalbum des kokett abgefuckten Glamour-Girls Sky Ferreira eine der bemerkenswertesten Platten des Jahres: Gemeinsam mit Rechtshaid hat Ferreira auf dem treffend "Night Time, My Time" betitelten Album ein in dunkelgrünen und –blauen Neontönen ausgeleuchtetes Los Angeles entworfen. Zwischen Bubblegum-Pop und Indie-Rock, 2nd Hand-Disco, früher Madonna, Cyndi Lauper, speckigem Lederjacken-Schick, Instagram-Elektronik und allem modisch Räudigen wird hier eine böse Welt gezeichnet. Teenage Angst, Absturz, Liebe gefunden, Liebe verloren, Revolte. Vielleicht Drogen?
Alles ist ranzig und erfreut sich an der eigenen Krassheit. Zwischen den dieses Jahr oft bemühten Polen Miley und Lorde (eh auch super, wenn auch bislang noch ein bisschen eindimensional) ist Sky Ferreira die dritte, sympathischere – auch, weil oft eben unsympathischere, rotzige, verzogene, unangenehme – Möglichkeit.
Die so ziemliche beste unter jenen Platten des Jahres, die noch im weitesten Sinne an herkömmlichem Songwriting interessiert sind, ist aber, um Längen, "Modern Vampires Of The City" von Vampire Weekend. Neben den beiden aufgekratzten, fidelen ersten Alben der Band steht diese Platte zunächst ganz schüchtern da. Hier muss nicht mehr mit exklusiven Soundideen geprotzt werden oder der mittlerweile schon bei hunderten anderen Bands allgegenwärtige und lasch gewordene Einfluss von Afropop und Highlife ins Schaufenster gestellt werden. Vampire Weekend haben zu sich gefunden und eine dunkle, stille Platte aufgenommen. Hier ist eine Band, die in sich ruht.
Ein Album mit großen Texten über das Hadern mit dem Leben, dem Glauben, dem Zweifeln und der Abkehr von der Religion. Dem programmatischen Song "Ya Hey" gelingt nicht nur das Kunststück, in seinem Titel gleichzeitig die Silben des Titels des universell beliebtesten Stücks (vor "Get Lucky") des letzten Jahrzehntes zu verdrehen und somit Gott höchstselbst anzusprechen, sondern auch im Text - in einer der rührendsten Passagen des Jahres - den Dogmen-Wechsel im Kopf des Erzählers in ein musikalisches Bild zu übersetzen: “My soul swooned as I finally heard the sound/ Of You spinning "Israelites" into "19th Nervous Breakdown"." Der DJ mixt "Israelites", den Über-Hit von Desmond Dekker, der vom Auszug aus Ägypten erzählt, in eine Nummer der Rolling Stones. Das wilde, verwirrende Leben als ein DJ-Set ohne Grenzen – sicherlich kein neues, aber ein hoffnungsfrohes Bild. Nach dem Reggae kommt der Rock’n’Roll, danach kommt etwas ganz anderes. Was soll dieser Band noch passieren?