Erstellt am: 18. 12. 2013 - 18:47 Uhr
Überwachung: Die zwei Fehler des Generalanwalts
Die NSA sei darauf aus, alle Kommunikationskanäle unter ihre Kontrolle zu bringen, so der US-amerikanische Enthüllungsjournalist Glenn Greenwald heute anlässlich einer Anhörung im Justizausschuss des EU-Parlaments. Das Motto heißt "Full Take" - die Dienste wollen alle Daten haben. Königsdisziplin jedoch ist das Sammeln und Auswerten von Metadaten, also der Informationen darüber, wer wo wann mit wem gemailt oder telefoniert hat, denn damit lässt sich gewissermaßen ein Pufferspeicher des Verhaltens einer ganzen Gesellschaft anlegen - eine Art Zeitmaschine für Polizisten.
Diese Informationen werden in Europa auf Grundlage der 2006 verabschiedeten Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung (VDS) je nach Mitgliedsstaat zwischen sechs Monate und zwei Jahre lang erfasst und seitens der Provider für Strafverfolgungsbehörden zum Abruf bereit gehalten.
"Höchstwahrscheinlich verfassungswidrig"
In den USA unterhält die National Security Agency (NSA), der mittlerweile wohl bekannteste Geheimdienst der Welt, ein ähnliches Programm. Dieses erfasst auch systematisch die Metadaten US-amerikanischer Staatsbürger, was dem Militärgeheimdienst eigentlich untersagt ist. Einige US-Bürger sowie die Menschenrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation haben gegen dieses NSA-Programm geklagt. Am 16. Dezember hat ein US-Bundesgericht in Washington D.C. entschieden, dass die verdachtsunabhängige Erfassung der Kommunikationsmetadaten von US-Bürgern durch die NSA "höchstwahrscheinlich verfassungswidrig" sei. Das Verfahren wird zwar in die nächste Instanz gehen, aber das Urteil ist trotzdem bemerkenswert.
Richter Richard Leon kam zu dem Schluss, dass das verdachtsunabhängige Sammeln von Metadaten mit einer ungenehmigten Hausdurchsuchung gleichzusetzen sei und damit gegen den vierten Zusatz zur US-Verfassung verstoße. Die Exekutive habe es nicht geschafft, ihm ausreichende Beweise dafür vorzulegen, dass die Sammlung sämtlicher Kommunikationsmetadaten aller Menschen in den USA auch tatsächlich zur Terrorbekämpfung geeignet sei.
Wirksamkeit unbewiesen
"Ich bin zu diesem Zeitpunkt im Verfahren nicht davon überzeugt, dass die Datenbank der NSA jemals dazu gedient hat, in zeitkritischen Situationen schnell Terroristen ausfindig zu machen", heißt es auf Seite 66 der Urteilsbegründung. Sprich: Die NSA konnte nicht glaubhaft machen, dass es zur Terrorbekämpfung wirklich nötig ist, alle Daten aller Menschen auf Vorrat zu speichern.
Dies gilt auch für die Lage in der Europäischen Union, wo es EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström nach jahrelangen Bemühungen nicht gelungen ist, einen überzeugenden Beweis dafür vorzulegen, dass die Vorratsdatenspeicherung ein verhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte der Bürger sein könnte. Die EU-Kommission und der EU-Ministerrat halten weiterhin an dem Vorhaben fest.
Schlussantrag des Generalanwalts
Anders als US-Richter Leon glaubt Pedro Cruz Villalón, Generalanwalt am Gerichtshof der Europäischen Union, dass die Vorratsdatenspeicherung funktionieren kann, wie er in Absatz 136 ff seines am 12. Dezember veröffentlichten Schlussantrags festhält. Der österreichische Verfassungsgerichtshof und der irische High Court haben den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gefragt, ob die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar sei.
Dass der EuGH sich mit der Substanz der VDS-Richtlinie befasst, ist vor allem dem Einsatz der österreichischen Menschenrechtsorganisation AK Vorrat zu verdanken, denn die Beschwerde des NGO Digital Rights Ireland vor dem irischen High Court wurde jahrelang hinausgezögert. Auch Einzelpersonen und die Kärntner Landesregierung haben vor dem VfGH Beschwerde gegen die VDS eingelegt.
Cruz Villalóns Schlussantrag ist eine detailliert begründete Rechtsmeinung, die den eigentlichen Spruch des EuGH vorbereiten soll. Dieser wird für Frühjahr 2014 erwartet. Die Richter halten sich in den meisten Fällen an die Schlussfolgerungen der Generalanwälte, sie können aber auch davon abweichen. Die EU-Grundrechtecharta gehört seit dem Vertrag von Lissabon zum Primärrecht der Europäischen Union und steht auch in Österreich seit einer VfGH-Entscheidung vom 4. Mai 2012 in Verfassungsrang.
Verstoß gegen die Grundrechte
Cruz Villalón ist der Ansicht, dass die VDS-Richtlinie gegen die EU-Grundrechtecharta verstößt, weil sie es ermöglicht, dass die Daten über ein Jahr hinweg gespeichert werden und weil die Umstände des Zugriffs auf den Datenbestand und dessen Verwendung angesichts der hohen Missbrauchsgefahr nicht ausreichend in ihr vordefiniert seien. Weil die VDS aber tief in die Grundrechte eingreife, müsse der Gesetzgeber schon auf EU-Ebene dafür sorgen, dass die Richtlinie mit diesen kompatibel sei.
Hans Peter Lehofer, Richter am Österreichischen Verwaltungsgerichtshof und Experte für Kommunikationsrecht, macht in einer ersten Analyse des Schlussantrags darauf aufmerksam, dass Cruz Villalón sich im Kern seiner Begründung nicht wirklich mit der Substanz der Vorratsdatenspeicherung auseinandergesetzt hat, also der anlasslosen Massenspeicherung selbst. Er schreibt: "Ich würde nicht ausschließen, dass der EuGH die zentrale Argumentationslinie des Generalanwalts verlässt und sich mehr auf die Prüfung dessen einlässt, was in der Richtlinie steht (statt - wie der Generalanwalt - den Mangel vor allem darin zu finden, was nicht in der RL steht), sich also vor allem mit der Speicherdauer befasst und vielleicht auch mit dem Grundkonzept der (ausnahmslosen) Vorratsdatenspeicherung." Dass der EuGH die VDS ganz kippt, hält Lehofer für unwahrscheinlich.
Zwei fatale Fehler
In einer poetisch anmutenden Passage seines Schlussantrags (Absatz 146 ff) wird Cruz Villalón grundsätzlich, argumentiert mit der Endlichkeit menschlichen Lebens und der Frage, was unter "Gegenwart" zu verstehen sei. Er überträgt diese Überlegungen dann auf die VDS-Richtlinie und kommt zu dem Schluss, dass Speicherfristen von über einem Jahr wohl zur Vergangenheit eines Individuums gehören würden und damit unverhältnismäßig lang seien. Sprich: Kürzere Fristen wären in Ordnung. Damit befindet sich der Generalanwalt durchaus auf Linie mit EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström und den Innenpolitikern der Großen Koalition in Deutschland, die auf eine Verkürzung der Speicherfristen hinarbeiten, die verdachtsunabhängige Erfassung aber beibehalten wollen. Seine Argumentation enthält aber zwei fatale Fehler.
Der erste liegt auf Ebene des Individuums. Cruz Villalón geht unter Rückgriff auf Norbert Elias vom subjektiven Zeitempfinden des einzelnen Menschen aus. Damit fällt er aber konzeptionell nicht nur hinter Sigmund Freud und Michel Foucault, sondern auch hinter die NSA und Google zurück. Wenn nämlich das Smartphone in meiner Tasche jede meiner Aktionen protokolliert, dann fallen wesentlich mehr Daten an, als mein Bewusstsein, mit dem Cruz Villalón argumentiert, verarbeiten kann. Die Maschine löst mein Leben höher auf als mein aktueller Bewusstseinszustand dies jemals könnte. Der Eingriff durch die Vorratsdatenspeicherung greift also wesentlich tiefer in die Existenz der ihr unterworfenen Subjekte - von "Bürgern" mag man nach Snowden fast nicht mehr schreiben - ein, als der Generalanwalt glaubt.
Zweitens begeht Cruz Villalón den Fehler, den Grundrechtsverstoß zuerst auf individueller Ebene zu suchen, wo er doch - den Konzept der Metadaten gemäß - auf Ebene des Aggregats stattfindet. Die NSA und die Vorratsdatenspeicherung funktionieren auf Grundlage konnektionistischer Prinzipien: Die Konfiguration der Verbindungen zwischen den Subjekten ist hier entscheidend - und zwar nicht nur in der Zeit, wie Cruz Villalón meint, sondern auch im Raum. Die Erfassung ebendieser Konfigurationen markiert den eigentlichen Eingriff in die Grundrechte, denn die umfängliche Kenntnis des Beziehungsnetzwerks markiert die unverwechselbare Identität im Netz, die der Staat eigentlich schützen sollte.
Datensicherheit und NSA
Dass es in Kenntnis der NSA-Machenschaften in Europa weder technisch noch administrativ möglich sein wird, die Vorratsdaten auf dem von Cruz Villalón geforderten Niveau vor dem Zugriff fremder Mächte zu schützen, ist angesichts dieser Denkfehler schon beinahe eine Fußnote im VDS-Verfahren.
Die sorgfältig-subtile Arbeitsweise der Höchstgerichte, die stets Grundrechte gegen Handlungsfähigkeit der gewählten Regierungen abwiegen müssen und daher fast schon zur Kompromissfindung verdammt sind, steht hier quer zur brutalen Realität der digitalen Überwachungstechnik. Und die heißt: Entweder der Staat überwacht alle Menschen ausnahmslos, wirft die Unschuldsvermutung über Bord und stellt die eingangs erwähnte Zeitmaschine her, oder er beschränkt sich auf gezielte wohlbegründete und unabhängig überprüfbare Maßnahmen. Es gibt kein "bisschen Vorratsdatenspeicherung", das Vorhaben ist vom Konzept her totalitär, dringt in die kleinsten Ritzen des menschlichen Daseins in der vernetzten Gesellschaft. Es geht hier um Grundsätzliches, die Überwachungsbefürworter wollen nichts weniger, als den totalen Zugriff als neue Normalität zu installieren.
Beitrag von Erich Möchel zum Stand der VDS-Debatte in Österreich
Kontrolle statt Vertrauen
Weil sie dabei mangels Vertrauen totale Kontrolle mit staatlicher Souveränität verwechseln, verlagert sich das Gewicht politischer Aktivitäten seit den Snowden-Enthüllungen auch nicht von den Überwachungsmaßnahmen weg, sie werden vielmehr aus Angst vor Souveränitätsverlust verstärkt. Dies zeigt nicht nur das ostentative Festhalten der neuen deutschen Koalitionsregierung an der Vorratsdatenspeicherung, sondern auch das kürzlich verabschiedete Gesetz über das Militärbudget in Frankreich, mit dem nebenbei der Echtzeit-Zugriff auf den Netzdatenverkehr durch Polizei, Geheimdienste und Finanzbehörden ohne Richtervorbehalt legalisiert wurde.
Und so hat das Heimatland der NSA ironischerweise eine größere Chance, die Vorratsdatenspeicherung wieder loszuwerden, als die Europäer.