Erstellt am: 23. 11. 2013 - 15:03 Uhr
Neverland Berlin
Aus dem Leben der Lo-Fi-Boheme
Berliner Beobachtungen von Christiane Rösinger
"In Berlin will ja niemand erwachsen werden", beschweren sich von Zeit zu Zeit Besucher und Journalisten, die in unsere schöne Stadt kommen. Und jeder Berliner, der ursprünglich vom Land oder aus einer kleinen Stadt kommt, erzählt nach einem Besuch in der alten Heimat Horrorgeschichten: Dort gehen schon die Dreißigjährigen nicht mehr aus, es wird früh verpaart, gebaut, vermehrt. Das Ausgehen-, Trinken-, Tanzen-Gehen ist den echten Jugendlichen vorbehalten, ab 30 heißt es höchstens noch "Essen gehen". Wer mit 28 noch Single und ausgehfreudig ist, gilt als alte Jungfer oder Sonderling.
Aber auch Freunde aus Hamburg oder München berichten, dass dort die Dreißigjährigen eher die Vierzigjährigen imitieren, es jenen an Gesetztheit und Seriosität gleichtun wollen, während in Berlin auffalle, dass sich die Bewohner hier eher jugendlich gerieren.
Und es ist natürlich was dran: Die Stadt Berlin macht es ihren Bewohnern leicht jung zu bleiben. 50 ist das neue 40 und 40 längst das neue 30, Dreißigjährige und Zwanzigjährige sind kaum noch auseinander zu halten.
Unknown
Schließlich wird der Mensch ja, allgemein, über die Jahrhunderte gesehen immer älter, die Pubertät setzt früher ein und für das "Erwachsenwerden" ist auch mit 40 noch jede Menge Zeit. Und was soll es überhaupt heißen "erwachsen" werden? Den Platz im Leben gefunden haben, Verantwortung übernehmen, aus Erfahrungen lernen, Weisheit und Wissen ansammeln oder heißt es nur bequem und lahm werden, sich nicht mehr für Musik, Mode, Popkultur, Politik oder andere Menschen zu interessieren?
Oft wird das Nicht-Erwachsen-Werden-Wollen ja an der Kleiderordnung festgemacht. In Berlin -Neverland trägt man gerne Kapuzenshirts, Cargohosen, Jeans und Turnschuhe, man kleidet sich weniger schick und bürgerlich und kann auch mit 40+ noch BMX fahren, Skaten, Plattenkisten auf Flohmärkten durchwühlen, in Clubs und auf Konzerten abhängen. Das Klischee der "ewigen Jugend" in Berlin ist inzwischen eine gesellschaftlich akzeptierte Tatsache.
Die Soziologie beschreibt dieses Nicht-Erwachsen-Werden-Wollen als "Posttraditionale Form der Vergemeinschaftung". Und in Berlin gibt es nun einmal diese schrecklich vielen jungen "Kreativen", informelle Gruppen in denen jene flüchten können, die den Einstieg ins Erwachsenenleben hinauszögern wollen, meint jedenfalls der Jugendforscher Bernhard Heinzlmeier in seinem Buch "Performer, Styler, Egoisten".
Diese städtische Freiheit jung und anders zu bleiben, hat natürlich auch ihre Schattenseiten. Überall sieht man bärtige Werbedeppen, die in der Brainstormingpause beim Tischfußball rumbrüllen wie Vierzehnjährige. Das Peter-Pan-Syndrom äußert sich besonders im Berliner Bezirk Neukölln in einem geschlechterübegreifenden Kindheits-Retrotrend: Rollerfahren, Zöpfchen flechten, Schürzchen tragen, Basteln, Sticken. Interessanterweise spielt man dabei nicht die eigene, sondern eher eine Sechziger- oder Siebziger-Jahre-Kindheit nach. In Restaurants bekommt man handgeschriebene Zettelchen oder Schulhefte statt Speisekarten. In der Gastronomie ist eine Vorliebe für vermeintliche Kindheitsgerichte auffällig: Überall werden bunte, weiche Kuchen angeboten, das Leben soll wohl ein einziger Kindergeburtstag sein, schon hat sich für diese Entwicklung das schöne Wort "cupcakification" gebildet.
CC flickr.com/11325321@N08/
Wenn alle jugendlich sein wollen, dann müssen die echten jungen Leute bis zum Säuglingsalter zurückgehen: Schon seit ein paar Jahren bemerkt man ihre Vorlieben für Brei und Flüssignahrung: Pürierte Suppen und Smoothies allüberall. "Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens" sagt ein altes Sprichwort, und da ist es nur natürlich diese Zeit so lange wie möglich hinauszuzögern. Die englische Sozialwissenschaft nennt Menschen, die dies tun, "Kidults" oder "Middle Youth". Die deutsche Fachliteratur bezeichnet das längere Verweilen im Zwischenabschnitt von Jugend- und Erwachsenwerden als "Moratorium".
Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann hat sich mit dem Phänomen der ewigen Jugend befasst und gibt zu bedenken, dass der Generationenbegriff nicht überall aufgehoben ist: "Die Lebensphase des Moratoriums entspricht ja nicht dem absoluten Mehrheitsmuster. Der Forschung nach zu urteilen machen Kidults maximal 25 Prozent eines Jahrgangs aus. Deshalb greift das klassische Generationendenken noch, denn die meisten wollen ja erwachsen werden".
Außer der ewig hinausgezögerten Jugend in "kreativen Berufen" gab es früher schon die Möglichkeit eines sogenannten "Boheme-Lebens" um dem Erwachsen- und Bürgerlich-Werden zu entkommen. Dieser Boheme-Style kann mit entsprechender Ausdauer auch bis übers Seniorenalter hinaus durchgezogen werden. Allerdings darf man auch hier die Klassenfrage, oder die nach den Schichten und Milieus nicht vergessen. Denn so der Jugendforscher: "Das Moratorium ist ein Privileg von überwiegend wohlhabenden jungen Erwachsenen, bei denen meist die Eltern an der Finanzierung des Lebensunterhaltes beteiligt sind. Dass jemand aus ganz armen Verhältnissen ein solches Leben führt, weil er kaum Ansprüche hat, gibt es sicherlich auch, ist aber definitiv die Ausnahme".
Auch davon kann man im Peter-Pan-Berlin ein Lied singen.