Erstellt am: 22. 11. 2013 - 18:03 Uhr
Mr. King, wie haben Sie das gemacht?
"Ich bin überzeugt, dass sich Geschichten in erster Linie selbst schaffen. Der Schreiber hat die Aufgabe, ihnen einen Ort zur Verfügung zu stellen, an dem sie sich entwickeln können. Wenn Sie das auch so sehen (oder es zumindest versuchen), dann können wir ganz gut zusammenarbeiten. Wenn Sie allerdings glauben, ich ticke nicht richtig, auch gut. Sie sind nicht der erste." (Stephen King: "On Writing", 2002, S. 180)
Stephen King auf FM4
- "Nichts Neues in Maine"
- "Under the Dome" (Roman)
- "The Dark Tower"
- "11/22/63"
- "Joyland"
- "Under the Dome" (TV-Serie)
Die soziologische Definition des Fan-Daseins erreicht eine völlig neue Dimension, wenn man hunderte Menschen sechs Stunden vor Veranstaltungsbeginn in klirrender Kälte warten sieht. Vor einem Zirkus. Für einen Schriftsteller. Einige Tage zuvor wurde das längst ausverkaufte Event noch mit weiteren Tickets aufgestockt, jedoch lediglich mit eingeschränkter Sicht. Für die meisten galt ohnedies: Hauptsache dabei. Eine Signierstunde gab es einige Tage zuvor in Paris, die Regeln waren jedoch streng: Jede/r durfte nur ein Buch mitbringen, keine Fotos mit dem Autor, keine langen Gespräche. Von rund tausend wartenden Menschen haben etwa vierhundert ihre begehrte Unterschrift bekommen.
Den ersten öffentlichen Europa-Besuch von Stephen King als Jahrhundert-Ereignis zu bezeichnen, ist gelinde gesagt immer noch eine Untertreibung. Kein anderer Autor der Gegenwart hat die westliche Kultur mit seinen Texten derart beeinflusst und kein anderer pendelt trotzdem immer noch dermaßen zwischen Tankstellen-Literatur und Feuilleton-Liebling. Auf kaum einen anderen Autor, nicht einmal auf J.K. Rowling, scheint der Begriff des "Stars" in diesem Ausmaß anwendbar. King ist im kulturellen Bewusstsein unserer Zeit verankert, jeder - selbst Leseunwillige - kennt seinen Namen. Kein anderer Autor dieses Ranges hat in den letzten Jahrzehnten aber auch so deutlich gemacht, dass er öffentliche Auftritte verabscheut, weil er sie auch gar nicht nötig hat.
Denn Kings kleine Lesestour durch Paris, München und Hamburg anlässlich der "Shining"-Fortsetzung "Doctor Sleep" (eine Rezension folgt demnächst auf diesen Seiten) ist keine wirkliche Werbetour, vielmehr ein Zugeständnis an die europäischen Verlagsdependenzen, sich endlich auch einmal in diesen Breitengraden blicken zu lassen. Branchenvertreter der Literaturszene und Medienvertreter machen bei Lesungen generell einen beachtlichen Anteil aus, hier dürfte es sich jedoch um fast ein Drittel des Publikums gehandelt haben. Bei insgesamt rund fünfhundert Menschen in der Manege eine doch bemerkenswerte Zahl.
Radio FM4
Ein Schmunzeln konnte ich mir angesichts des ausgewählten Settings dann doch nicht verkneifen: der Circus Krone, größter Zirkus Europas, ehemalige Bühne der Beatles, in ein paar Wochen treten dort die Kastelruther Spatzen auf. Der Glitzervorhang der Manege erinnerte an surreale Traumsequenzen einer imaginierten Talk-Show, King hätte sich das nicht besser ausdenken können. King hätte sogar ursprünglich inmitten des Publikums in der Manege sitzen sollen, man entschied sich dann doch für den Vordergrund der großen Eingangspforte, wo sonst Tiere und Artisten einmarschieren. Und Clowns natürlich, neben dem „Brot und Spiele“-Charakter des Events der wohl einzige inhaltliche Bezugspunkt zwischen Location und Autor.
Radio FM4
All Hail The King
Lässt man die teils grotesken Aspekte der Inszenierung beiseite, dann präsentiert sich ein gut gelaunter, lässiger, eloquenter, witziger und allzu vertraut erscheinender Stephen King, eingeleitet von einer leidenschaftlichen Laudatio des neuen deutschen Literatur-Gurus Denis Scheck, in dessen Worten King einfach nach Deutschland passe - dank Grimms und Nazis sei es das "Land of the Horror". King erscheint in Jeans und T-Shirt, liest seine Leseprobe aus "Doctor Sleep" vom Tablet. Ein "Fucking iPad" entkommt ihm, als ihm das Umblättern versagt bleibt. Überhaupt zeigt sich Stephen King trotz seiner Menschenscheue als äußerst umgänglicher Zeitgenosse mit einer ganz großen Stärke, die seine Werke ausmacht: dem Geschichten erzählen.
Radio FM4
Ich bemerke, wie ich mich immer weiter nach vor neige, während er alte Anekdoten über Stanley Kubrick und dessen (in Kings Augen verunglückte) "Shining"-Verfilmung auspackt. Kubrick habe er nur zweimal gesprochen, das erste Mal lediglich am Telefon. Es sei sieben Uhr morgens gewesen. Er habe sich gerade nach einer durchzechten Nacht rasiert, als seine Frau ins Badezimmer stürmte: "Honey, you won’t believe who’s on the phone: It’s Stanley Kubrick!" – und Schnitt. Mitten ins Gesicht. King klebt sich Klopapierstückchen auf die Rasierwunde, stürmt zum Telefon und hört Kubricks gewaltiges Organ: "Hi, this is Stanley Kubrick speaking. Don’t you think ghosts are kind of optimistic?". King, völlig perplex (vermutlich noch restfett), mit Klopapier im Gesicht, verneint, deutet auf die Existenz der Hölle hin, Geister seien vielleicht dort nicht besonders glücklich. "Aha" heißt es auf der anderen Seite, dann das Freizeichen. Kubrick hat aufgelegt. Man verstand sich nicht wirklich. Später auch nicht, als Kubrick nach Kings Aussagen Zigaretten vor seinen Augen bis auf den Filter runterrauchte, diesen dann zwischen den Fingern zu Kügelchen formte, nur um ihn in einer kleinen Schatulle aufzubewahren. "Stan, Stan my friend, Stan-The Man" – King kokettiert mit dem Verblichenen, man habe nie einen Bezug zueinander gehabt. Er liebe Kubricks Filme, er mag halt nur diesen einen nicht. Dass Filme wie "Room 237" zeigen, dass Kubrick Kings Vorlage durchaus auch vorgeführt hat, ist ein anderes Kapitel.
Radio FM4
All das verhalf King aber eine eigene "Stimme" zu finden – nicht unbedingt jene, die zu uns spricht. Sondern die Art und Weise, wie seine Texte zu ihren Lesern sprechen. Das Kumpelhafte, das Verständliche (dass Literatur verständlich sein darf, vergisst man heutzutage ja gerne). King war es, der das das Konzept des Lagerfeuer-Erzählers in die Postmoderne retten konnte. King ist Dylan, keine große (Gesangs-)Stimme, aber boy, was für eine Stimme! Es ist kein Wunder, dass er sein Pseudonym Richard Bachmann mit dem verzweifelten Versuch der Beatles gleichsetzt, wieder unter neuem Namen, verschleiert mit Masken, die alten Clubs durchzutingeln. John Lennon habe das durchschaut: "Paul, dress up how you like. They will know who you are when you open your fucking mouth". Schriftsteller lügen, wenn sie den Mund aufmachen, aber Kings Lügen glaubt man gerne, man erkennt sie aus hunderttausenden wieder.
Die Sache mit dem Horror
Dass King nun nach so vielen Jahren eine Fortsetzung zu "Shining" vorlegt, liegt nicht nur an der ewigen Frage seiner Fans, was denn nun aus dem kleinen Danny Torrance geworden sei. Ein kleiner Spoiler, der bei so einem Kindheitstrauma nicht wundert: he became a fucked up adult. Es lag vielmehr auch an der Abrechnung mit der eigenen Alkoholsucht (King bleibe nach eigenen Aussagen immer ein Alkoholiker, trotz langjähriger Abstinenz), und jener mit dem Horror.
Für einen kurzen Moment merkt man dem humpelnden, alten Mann an, dass er es satt hat, die Gallionsfigur für ein ständig missverstandenes Genre zu sein. Und dass seine Monster, Ängste, Dystopien vielmehr abgesicherte Rehearsals für menschliche Abgründe darstellen, als bloß den Schrecken für den Moment. Er weiß, wie viele meiner klugen Kollegen wie Christian Fuchs oder Markus Keuschnigg, dass Horror Kanalisationsfunktionen in unseren Lebensentwürfen übernimmt, es diese sogar benötigt, und dass es sich etwa in der berühmten „Alien“-Szene von Ridley Scott, wenn sich die Bauchdecke öffnet, auch um eine Krebsmetapher handelt. Pennywise ist auch mehr, als nur das Monster in Clown-Gestalt. Es gehört schon viel dazu, einem Menschen zu vergewissern, dass aus Tennisbällen Giftgas strömt, wenn man sie aufschneiden würde. Aber es gehört noch viel mehr dazu, ihnen dabei Sicherheit zu geben.
Als mir gestern ein TV-Bericht zu Kings Auftritt unterkam, hätte ich den Kolleginnen gerne auf die Finger geklopft: Wieder die Horror-Sache, wieder das "literarisch nicht gerade hochwertig", wieder bleibt nur das medial übrig, wenn man Kings Schaffen auf 2,5 Minuten kürzen muss. Vielleicht ein Grund, warum er sich öffentliche Medienauftritte nicht mehr antut. In diesem Zusammenhang sei auf Kings Abhandlungen "On Writing" und "Danse Macabre" verwiesen, zwei kluge Poetiken über das Schreiben und die Geschichte des Horrors. Zum besseren Verständnis.
Radio FM4
Nach 90 Minuten verabschiedet sich King, Signierstunde gibt es keine. Das Gespräch mit Scheck war ein Interview in der Tradition von Truffaut-Hitchcock: Man wollte diesen Mann einfach mal sehen, ein wenig vom Glamour spüren. Glamourös war jedoch nur der Glitzervorhang, King war der Kumpel von nebenan. Ein älterer, gewitzter, eventuell sogar weiser Mann, der gerne Geschichten erzählt. Ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass King in diesem Leben nicht mehr öffentlich in Europa auftreten wird. Dementsprechend bleibt es ein einmaliges Erlebnis, einen höchst respektablen Autor, der auch mich ein Leben lang begleitet, live gesehen zu haben. Das Publikum dankt mit standing ovations, King ist sichtlich gerührt und applaudiert zurück.
Zwei der schönsten Momente zum Schluss: Als King etwa klarstellt, dass das berühmte Bangor/Maine wie "Ban-Goooore" ausgesprochen wird. Und nicht wie Letterman einmal scherzhaft meinte: "Bang’er? I don’t even know her!". Und als King auf die Frage, ob er sich wünschen würde, ewig zu leben, antwortet: "No, dying is okay. Eventually I just would wish you would go before me. But maybe not tonight."