Erstellt am: 30. 8. 2013 - 18:15 Uhr
Oculus Rift
Als Teenager verschlang ich mit großen Augen Wiliam Gibsons Roman "Neuromancer". Der erste Cyberpunk-Roman legte 1984 den Grundstein für ein ganzes Subgenre der Science-Fiction - und dockte in meinem Bewusstsein genau da an, wo mich erste Experimente an Großrechnern im Schulrechenzentrum und einem von der Großmutter geschenkten Commodore-64-Computer hingeführt hatten. Meine Freunde und ich fantasierten von physischen Schnittstellen zwischen Gehirn und Maschine und von weltweiten Computernetzwerken, die wir in Form einer virtuellen Realität betreten würden. Nach den achtziger Jahren waren es VR-Kinofilme wie "The Matrix" (1999) oder Cyberpunk-Videospiele wie "Deus Ex" (2000), die unsere Vorstellungen weiter beflügelten. In der Realität aber scheiterten die Versuche, glaubwürdige virtuelle Realität zu gestalten, an der Hardware. Zuletzt enttäuschte 2012 Sony mit seinem Headset HMZ-T1. Beim Tragen der ungemütlichen Videobrille tauchten User nicht etwa ins Spiel- oder Filmgeschehen ein, sondern sahen einen im schwarzen Raum schwebenden virtuellen Bildschirm - mit einem eher beengenden Blickwinkel von nur 30 Grad.
Oculus VR
Enttäuscht von den bisherigen Versuchen war auch Palmer Luckey, Designer am Institute for Creative Technologies der University of Southern California. Jahrelang kaufte er jede Videobrille und jedes angebliche VR-Headset, das er kriegen konnte - und fühlte sich jedesmal ernüchtert: Nicht nur das allzu enge Blickfeld, sondern auch die quälend lange Verzögerung, mit der die Kopfbewegungen des Users - wenn überhaupt - auf das Bild übertragen wurden, zerstörte den Eindruck, sich in einer virtuellen Realität zu befinden. Luckey zerlegte die Produkte und analysierte sie. Schließlich baute er aus einer Skibrille, einem Tablet-Screen, zwei Linsen und den Lagesensoren eines Smartphones den ersten Prototypen dessen, was später zum Oculus Rift werden sollte. Als der Mittzwanziger seinen mit Gaffertape zusammengeklebten Prototypen dem legendären Videospiel-Designer John Carmack ("Doom", "Quake") präsentierte, sagte dieser sofort seine Unterstützung zu. Eine Crowdfunding-Kampage auf Kickstarter brachte mehrere Millionen US-Dollar ein - weit mehr, als Luckey oder Carmack erwartet hatten. Das Unternehmen Oculus VR war gestartet.
Burstup
Hype oder Revolution?
Warum löst Palmer Luckeys Skibrillen-Bastelei so viel Begeisterung aus, dass sogar das wahrlich nicht für unreflektierte Begeisterungsstürme bekannte Spielemagazin EDGE auf sein Cover den Satz "Believe the hype" schreibt? Weltweit existieren derzeit nur etwa 20.000 Stück des Oculus Rift - eine frühe Version im Rahmen eines Entwicklerprogramms. Um selbst einen Eindruck von der VR-Brille zu gewinnen und damit zu experimentieren, legte ich mir ein solches Developer Kit zu. Die mehrwöchige Wartezeit gestaltete sich nervenaufreibend. Wird die Lieferung vollständig eintreffen? Wird alles funktionieren? Sorgfältig installierte ich dutzende interaktive Rift-Demos sowie Rift-Modifikationen älterer Videospiele. Ich verfolgte den Weg des Pakets mehrmals täglich via UPS-Trackingservice - und hielt schließlich den schwarzen Koffer in den Händen.
Weiss
Das Anschließen des Headsets dauerte keine zwei Minuten, und ich lud zuerst das "Tuscany"-Demo - ein kleines, interaktives Kunstwerk, das den User in einen Garten mit Haus in der italienischen Toskana versetzt. Ich setzte das Rift auf, und die Gartenlandschaft erstreckte sich vor mir - ein ganzes Stück weiter als die Wände des Wohnzimmers, die ich gerade noch gesehen hatte. Ein Schmetterling flog an meinem Gesicht vorbei und ich wollte nach ihm greifen. Ich betrat das Haus und blickte nach oben - die Zimmerdecke war mehrere Meter hoch. Nicht auf einem Bildschirm war die virtuelle Toskana zu sehen, sondern sie umgab mich vollständig. Wenn ich mich umdrehte, sah ich in der Ferne vor dem Hauseingang noch den Schmetterling, während sich vor mir das Meer erstreckte. Ich betrat den Balkon des Hauses, genoss die Aussicht, baumelte mit den Füßen - und schrie vor Schmerz. Mein Schienbein war gegen den in der physischen Welt immer noch vorhandenen Couchtisch gestoßen. Ich nahm das Headset ab und war trotz der Schmerzen aufgeregter als zuvor. 110 Grad Blickwinkel und dank des latenzfreien Headtrackings ein Gefühl, mitten in einer Szene zu sein, die sich 360 Grad um mich erstreckt. Hier war sie: echte, funktionierende VR-Technologie in meinem Wohnzimmer.
Unendliche Weiten
Wenig später begab ich mich auf eine Reise durch unser Sonnensystem ("Titans of Space"). Ich glitt an maßstabgetreuen Modellen aller Planeten, sowie dutzender Monde, Asteroiden und Zwergplaneten vorbei. Dazu gab es einen Vergleich mit der Sonne und drei weiteren, noch gewaltigeren Sternen unserer Galaxis - niemals zuvor habe ich in einer Computersimulation ein solches Gefühl von Weite und Größe erlebt.
Als ich dann in meiner Raumkapsel schwebend nach unten sah, erblickte ich ein Paar virtuelle Beine. Mein Gehirn registrierte sie sofort als dem eigenen Körper zugehörig - ein faszinierendes Gefühl. Weltraumsimulationen mit Oculus-Rift-Unterstützung haben eine große Zukunft vor sich: David Braben, der Großvater des Genres, hat einen Rift-Modus für sein 2014 erscheinendes Spiel "Elite: Dangerous" angekündigt, ebenso Chris Roberts ("Wing Commander", "Freelancer") für die 2014 kommende Spacesim "Star Citizen".
Frontier
Welcome to City 17
Auch das Spielestudio Valve gehört zu den frühen Unterstützern des Oculus Rift. Wer sich auf Steam in der Beta-Pipeline der beiden Games "Team Fortress 2" und "Half-Life 2" einträgt, kann diese mit dem VR-Headset genießen. Das erste mal seit neun Jahren begab ich mich also in die City 17 und traute meinen Augen kaum. Der Eisenbahnwaggon im Intro des Spiels hatte die Größe, die man vom Inneren eines Zugs eben erwartet. Der computergesteuerte Passagier, dem ich näherkam, stand in Lebensgröße vor mir - kein kleines Männchen auf einem Bildschirm. Ich verließ den Zug, blickte nach oben - die Bahnhofshalle erstreckte sich 20 Meter über meinem Kopf. Als ich meinen Kopf gegen ein Gitter drückte, hatte ich das Gefühl, den Zaun mit dem Mund berühren zu können. Das Spiel aus dem Jahr 2004 wirkt, als wäre es für das Virtual-Reality-Headset gemacht. Nach einer Viertelstunde musste ich allerdings eine Pause einlegen - ich hatte mich zu schnell durch City 17 bewegt und war "simulator sick" geworden. Das fühlt sich etwa so an wie Unwohlsein beim Lesen im Auto oder Seekrankheit auf einem Schiff.
Second Life und Minecraft
So beeindruckend Valve's Action-Klassiker "Half-Life 2" mit dem VR-Headset ist: Im Rift genieße ich lieber interaktive Kunstwerke, die einfach nur zum Entdecken, Erforschen und Verweilen einladen. Die Frühzeit der VR-Entwicklung hat eine höchst aktive Demoszene hervorgebracht. Ihre Kunstwerke werden auf Plattformen wie Rift Enabled, Bloculus oder Oculus Share gesammelt und verteilt. Als Liebhaber von Virtual-World-Plattformen wie Second Life oder Open Simulator freue ich mich auch, dass es bereits einen inoffiziellen Rift-Viewer für diese gibt. Der CtrlAltStudio-Viewer lädt ein, in SL oder Opensim die tausenden von Usern liebevoll gestalteten Regionen zu genießen.
Auch das Sandbox-Game "Minecraft", das seine User zu kreativen Höchstleistungen inspiriert, wurde von einem schlauen Modder bereits für die Nutzung mit dem VR-Headset angepasst - großartig. Wer einmal eine von dutzenden Usern gemeinsam gebaute Stadt mit dem Oculus Rift betreten und "lebensgroß" gesehen hat, wird sie auf herkömmlichen Bildschirmen in Zukunft mit ganz anderen Augen sehen: Auf dem Bildschirm betrachtest du das Geschehen nur durch ein kleines Fenster hindurch, das Rift transportiert dich ins Geschehen hinein. Rift wirkt dabei auch als Vergrößerungsglas für die vom Spiel transportierte Emotion. Ein Cop mit elektrischem Schlagstock, der in Lebensgröße vor dir steht, wirkt sehr viel bedrohlicher als auf einem Fernsehgerät.
Weiss
Wie in Half-Life 2 zeigt sich aber auch in Minecraft oder Second Life: Allzu schnelles Laufen, Springen und Drehen kann das Wohlbefinden besonders in den ersten Tagen stark strapazieren. Erst nach einigen Tagen Übung beginnt das Gehirn, die Bewegung in der virtuellen Realität bei gleichzeitig still sitzendem Körper zu akzeptieren. Und selbst dann: Ein Blick vom Dach eines Wolkenkratzers hinunter auf die Straße wirkt mit dem VR-Headset beängstigend real. So real, dass ich mich auch nach vier Wochen noch kaum in das - ebenfalls sehr gut im Rift funktionierende - Parcour-Spiel "Mirror's Edge" getraut habe.
Und ihr könnt mich jetzt ruhig für feig halten, doch auch in das Survival-Horror-Demo "Alone In The Rift" habe ich mich bisher noch nicht gewagt.
All das ist auch der Grund für das Vorhaben Palmer Luckeys, eine "Consumer Version" des Oculus Rift erst im Laufe des Jahres 2014 in den Handel zu bringen. Virtual Reality erfordert ein neues Denken hinsichtlich Level Design, User Interface und Erzählweise. Cutscenes, die den Spieler aus dem Geschehen reißen, sind in einem VR-Headset genauso tabu wie wackelnde Screens oder plötzlich einfrierende Ladebildschirme.
"Doom"-Erfinder John Carmack kümmert sich in Luckeys Firma derweil darum, Rift-Software neben PCs und Macs auch für Android-Geräte zu ermöglichen. Mit den Herstellern von PS4, Xbox One und Wii U hingegen kooperiert das junge Unternehmen bisher nicht - diese Plattformen seien ebenso wie das iPhone nicht offen genug, so Luckey. Wenn Sony, Microsoft und Nintendo schlau sind, arbeiten sie ohnehin bereits daran, Luckeys bahnbrechende Erfindung zu kopieren. Bis zum Erscheinen des Oculus Rift im Jahr 2014 müssen wohl noch einige Erwartungen und Paradigmen der Videospielewelt hinterfragt werden.