Erstellt am: 20. 7. 2013 - 09:12 Uhr
Zelten in Kreuzberg
Geht man in diesen Wochen durch das sommerliche Kreuzberg, so fallen neben den üblichen Berliner Sinneseindrücken (viele Touristen, alle sprechen Englisch, jede Menge neuer Billig-Restaurants und Touristenbars) drei große Zeltplätze mit Transparenten in nächster Nähe zueinander auf.
Am Kottbusser Tor protestiert man schon seit einem Jahr gegen hohe Mieten. Direkt gegenüber wurde zeitgleich zu den Protesten in Istanbul der Berliner Taksim-Platz samt Protestzelt errichtet und 500 Meter Luftlinie weiter zelten Flüchtlinge auf dem Oranienplatz. Protest, wohin das Auge blickt!

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Am U-Bahnhof Kottbusser Tor, von Anwohnern liebevoll Kotti genannt, zeltet man schon seit über einem Jahr gegen hohe Mieten und Verdrängung. Erste Ziele hat das Bündnis aus vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen schon erreicht. Aus den Zelten und Bretterbuden ist mittlerweile eine Holzhütte mit Glasfenstern geworden, zur Zeit baut die Jugendorganisation der Kotti-Bewegung, die „Kottijugend“, an einer Veranda mit Vordach.
Direkt gegenüber, auf der anderen Seite der Hochbahn der Linie 1, ist der Kreuzberger Taksim-Platz entstanden. Eine Initiative mit dem Namen „Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“ hat seit fünf Wochen hier ein Zelt errichtet – und damit die Zeltstätten im Istanbuler Gezi-Park nachgeahmt. Unter dem Banner „Kotti grüsst Taksim“ laufen hier die Informationen über die Proteste in Istanbul zusammen, es werden Neuigkeiten vom Istanbuler Taksim ausgetauscht und natürlich werden Demos organisiert und Solidarität bekundet, nachts verfolgt man Live - Übertragungen der Polizeieinsätze in der Türkei. 30 bis 40 Personen halten sich tagsüber am Zelt auf, andere schlafen dort. An manchen Tagen herrscht eine entspannte Festivalstimmung, es wird musiziert, es werden Lieder gesungen, man sitzt rum und unterhält sich. Aber wenn Nachrichten von den Polizeieinsätzen in Istanbul eintreffen, wird die Stimmung hier auch angespannter. Nach einer Schweigeminute für die Todesopfer, die bisher während der Proteste an ihren Verletzungen gestorben sind, gab es eine spontane Solidaritäts-Demo, an der laut Polizei 700 Menschen teilnahmen.
Um die Ecke am Oranienplatz haben seit Oktober streikende Flüchtlinge ihre Zelte aufgebaut. Keine Abschiebungen mehr, keine Sammellager, Abschaffung der Residenzpflicht, das sind die Forderungen.

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Drei Protestcamps in unmittelbarer Nachbarschaft – so etwas gibt es bislang nur im protestierfreudigen widerständigen Kreuzberg. Und Kreuzberg hat ja auch seinen Ruf als erztoleranter Alternativbezirk zu verteidigen.
Diese drei Camps auf engstem Raum sind jedoch kein Zufall, denn während woanders solche Protestcamps schnell geräumt werden, duldet der Bezirk Kreuzberg alle Camps vorerst unbefristet. Weil man die politischen Anliegen teile, sagt der Bürgermeister von Kreuzberg, der Grünenpolitiker Franz Schulz.
Die Flüchtlinge vom Oranienplatz campten zuerst am Brandenburger Tor, dort beschlagnahmte die Polizei Schlafsäcke und Isomatten. In Kreuzberg wurden nach der Platzbesetzung ein Sanitärcontainer und eine leere Schule als Winterquartier zur Verfügung gestellt.
Natürlich ist auch in Kreuzberg nicht alles eitel Sonnenschein, natürlich gibt es Probleme, wenn hundert Menschen plötzlich über Monate auf einem Platz inmitten der Stadt campieren.
Es gab Ärger mit den Nachbarn, zu laut und vermüllt sei das Camp, schimpften die Anwohner, und irgendwann sei auch mal gut mit dem Protest. Der Streit gipfelte in einem Messerangriff auf einen Flüchtling, es gab Tumulte, Polizeieinsätze. In Kreuzberg zeigt sich aber, dass man mit solchen Konflikten auch umgehen kann. Statt das Camp zu räumen, gab es hier einen runden Tisch mit Flüchtlingen, Politikern und Anwohnern, zusätzliche Toiletten- und Müllcontainer wurden bereitgestellt.
Und letztendlich siegte dann die Kreuzberger Solidarität. Schließlich hat die Stadt eine „Willkommenskultur“ zu einem der Grundsätze ihrer Integrationspolitik erhoben, und in Kreuzberg haben fast 50 % der Einwohner einen Migrationshintergrund, 29 % haben keine deutsche Staatsbürgerschaft.
Wie lange die Zelte noch in Kreuzberg stehen, bleibt abzuwarten. Überall in der Welt wird ja gerade mit Zelten demonstriert: in der Türkei, in Brasilien und Ägypten. 2011 zeltete die Occupy Bewegung in New York, und auch in Tel Aviv campte man für soziale Gerechtigkeit auf den Straßen. Das Zelten hat inzwischen neben seinem Ursprung als archaische Wohnform und seinem Campingcharakter in der Freizeitwelt auch eine neue Bedeutung als Protestform gegen Kapitalismus und Ungerechtigkeiten aller Art gefunden.