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Christian Pausch

Irrsinn, Island, Ingwer.

23. 5. 2013 - 17:20

Mutter und der Bleistift

Josef Winkler hält Rückschau auf das Leben seiner Mutter, die in der Stille gelebt hat und vor kurzem verstorben ist.

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Durch Josef Winklers ganzes Werk zieht er sich wie ein roter Faden: der Tod. Unfälle, verzweifelte Suizide, Familientragödien. Um all das in seiner ganzen Tragik zu beschreiben, braucht er aber vor allem eines: das Leben, das - so habe ich hier vor kurzem geschrieben - bei Winkler oft überlesen wird.

Wenn man viel von Winkler gelesen hat, glaubt man, dass man irgendwann abgehärtet ist gegen die schrecklichen Geschichten, die er uns auftischt und den katholisch-makabren Wortschatz, mit dem er sie zu erzählen weiß. Und dann wird man vor den Kopf gestoßen, wenn einmal mehr die Gänsehaut aufsteigt, als er von einer Großmutter erzählt, die ihren beiden bereits bewusstlosen Enkeln in den Getreidesilo folgt, durch die dort aufsteigenden Gärgase ebenfalls in Ohnmacht fällt, zusammen mit ihren Enkelkindern erstickt und alle drei in einem Gemeinschaftssarg beerdigt werden.

Requiem für die Eltern

Der berührendste Moment in Winklers Œuvre wird für mich aber wohl immer der sein als er in "Roppongi - Requiem für einen Vater" beschreibt, wie er vom Tod seines Vaters erfährt, zu dem er zeitlebens kein gutes Verhältnis hatte. Winkler befindet sich gerade in der österreichischen Botschaft in Tokyo, als er die Nachricht erhält:

Ich schaute hinaus auf einen Teich mit orangefarbenen Wakinfischen, als ein Reiher mit weit auseinandergebreiteten Flügeln am Rande des Teiches aufsetzte. Der tote Vater hat sich also, dachte ich in diesem Augenblick der Trauer und des Glücks, in der Gestalt eines weißen Reihers noch einmal bei mir blicken lassen, bevor er unter die Erde geschaufelt wird...

reiher

JJ Harrison / wikipedia.org

Ein Leben ohne Worte

Nun ist es die Mutter, von deren Leben und Ableben uns Josef Winkler berichtet. Für das junge Kind Josef ist sie eine gespaltene Person. Einerseits will er sie, wie wohl jedes Kind die eigene Mutter, herzen und liebkosen, andererseits ist sie streng und lässt kaum Nähe zu. So gespalten wie die Mutter ist auch das Buch: getrennt in zwei verschiedene Teile wird ihre Geschichte erzählt. Der erste Teil trägt den Titel "Da flog das Wort auf" und erzählt vom Leben der Mutter vor Josef Winklers Geburt, als sie drei ihrer Brüder im Krieg verlieren musste.

Nach dem gewaltsamen Tod der drei erwachsenen Söhne im Krieg - nur einer konnte sich in einem Sarg verstecken, die anderen wurden sarglos in der Erde verscharrt, denn es gab kein Bestattungsinstitut auf den Schlachtfeldern, und außerdem 'sarglos', was für ein Wort, also ohne Sarg soll das heißen, "Formulierung ist Einverständnis", heißt es bei Ilse Aichinger -, nach dem Tod der drei Söhne also war die Familie vollkommen verstummt, mein Elternhaus mütterlicherseits war eines der stillsten Bauernhäuser im ganzen Kärntner Drautal geworden, ...

Wie fast immer in seinen Werken setzt Winkler auch hier auf Intertextualität und zitiert aus Büchern, die ihm gerade zur Hand sind. Ilse Aichingers "Kleist, Moos, Fasane" geleitet uns und ihn durch diesen ersten Abschnitt, den Winkler auf einer Indien-Reise verfasst hat. In "Mutter und der Bleistift", dem zweiten Teil des gleichbetitelten Buches, ist es Peter Handke, der zitiert wird.

raffael

c-lune.com / Raffael

... in Ellora (...) fiel mir - "da flog das Wort auf!" - die Madonna sulla seggiola von Raffael über den Betten meiner Eltern ein ...

Die schöne Hand

Mit der Erzählung "Wunschloses Unglück" von Peter Handke in meiner ledernen Umhängetasche, einem roten indischen Notizbuch, das ich vor ein paar Jahren in Varanasi gekauft hatte, und die Pelikan-Füllfeder in der Hand, abwechselnd lesend und schreibend, sitze ich in der indischen Stadt Pune, ungefähr 150 Kilometer von Mumbai entfernt, in einer Gemüsehalle und denke beim Anblick eines meterhohen, auf dem Boden liegenden Stoßes Petersilie an meine inzwischen verstorbene Mutter - "Der Bleistift roch nach Rosmarin", steht in Peter Handkes "Phantasien einer Wiederholung"...

winkler

Suhrkamp

Josef Winkler "Mutter und der Bleistift", erschienen bei Suhrkamp.

In die schöne Hand, solle er den Bleistift nehmen, befiehlt dem linkshändig schreibenden Josef Winkler seine Mutter. Ein Bild, dass sich beim Lesen in uns einprägt und dass sich eingeprägt hat in den Knaben, der seither bei jedem Bleistift an die Mutter denken muss. Genauso bei Weihwasser, dass ihn die Mutter übertrieben oft aus der Kirche holen lässt, damit es zuhause ja nie ausgehen wird. Und dann gibt es ihn wieder, den berührenden Moment, als der Sohn der Mutter ein letztes Mal Weihwasser bringt:

Beim Begräbnis meiner Mutter in ihrem Heimatdorf Kamering, nach der kirchlichen Aussegnung, als man ihren Sarg mit den auf dem Deckel sich bewegenden Blüten der roten Nelken aufschulterte, zum ausgeschaufelten Erdloch auf den Friedhof hinaustrug und sich ihr Kopf im Sarginneren das allerletztemal bewegte, tauchte ich den alten, großen, hölzernen Weihwasserpinsel mit den zusammenklebenden silbernen Borsten, den ich als Erzministrant unzählige Male in die Hand genommen hatte, in den kupfernen, eingebeulten Wasserkessel und spritzte das Weihwasser dreimal im Zeichen des Kreuzes ins offene Grab auf ihren bereits abgesenkten Sarg, auf die von den schweren Weihwassertropfen nachzitternden Blütenblätter der Rosen und Nelken.