Erstellt am: 3. 4. 2013 - 17:55 Uhr
Eine Totenmaske auf der Brust
In meiner Wohnung gleich neben der Eingangstüre hängt ein Kalender, auf dem Woche für Woche ein_e andere_r Schrifsteller_in vorgestellt bzw. in Erinnerung gerufen wird. Diese Woche ist es bezeichnenderweise Ingeborg Bachmann, als hätten die Kalendermacher_innen geahnt, dass ich mich in genau dieser Woche einmal mehr mit einem von Bachmanns glühendsten Verehrern beschäftigen werde: Josef Winkler.
Von Erichsen, DPA
Das Dorf K
In seinem Heimatort Kamering sitzt der zwanzigjährige Josef Winkler vor einem Radiogerät und erfährt vom Tod Ingeborg Bachmanns. Doch schon vorher, seit jeher, begleitet ihn der Tod: am Anfang steht der Tod der Großmutter mit dem die Erinnerung Winklers einsetzt, dann zahllose Suizide, wie der Freitod zweier Kindheits-Freunde, die sich gemeinsam in einem nahegelegenen Heustadl in die Tiefe stürzen, später der Tod des Vaters und dann sogar - wenn auch auf gänzlich andere Art und Weise - der Tod Jörg Haiders. (siehe Josef Winklers Rede zum Bachmannpreis 2009, ein must-see.)
Mit 26 Jahren, kurz nach dem Erscheinen seines Debüt-Romans "Menschenkind", schreibt Josef Winkler in kürzester Zeit einen Schwall an Gedanken nieder und nennt ihn "Das lächelnde Gesicht der Totenmaske der Else Lasker-Schüler", veröffentlicht in der Grazer Literaturzeitschrift "manuskripte". Nun wird dieser Text zum ersten Mal in Buchform erscheinen, unter einem neuen Titel: "Wortschatz der Nacht". Warum wurde der Text nicht schon damals als Buch publiziert, wird Winkler im Jänner in der Presse gefragt: "Weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass man innerhalb von vielleicht fünf Nächten ein Buch schreiben kann. Ich habe diesen Wortrausch, um es so zu sagen, nicht ernst genommen."
Wiederholung von Ö1 Diagonal über und mit Josef Winkler aus dem Mai 2012.
Abwechselnd blicke ich auf meine Hände und auf die Totenmaske der Else Lasker-Schüler. Ihre Totenmaske, die ein lächelndes Gesicht zeigt. Ich erschrecke davor, weil ich nicht will, daß eine Totenmaske lächelt, ich streiche ihr die Augenbrauen glatt. (...) Wenn ich in meinem Zimmer laut ihre Gedichte lese, liegt ihre Totenmaske auf meinem Schoß. Vor dem Schlafengehen küsse ich sie. Während ich meine Augen schließe, öffnen sich die Augen der Totenmaske und blicken auf meine zitternden Lider. Ich darf die Augen jetzt nicht öffnen, ich will, daß sie mir lange ins Gesicht schaut, die Totenmaske der Else Lasker-Schüler.
Die Stadt K
Während Winkler in "Wortschatz der Nacht" durch Klagenfurt eilt, getrieben von den Erinnerungen an seine Kindheit, trägt er einen Ausdruck der Totenmaske von Else Lasker-Schüler auf der Brust. Lasker-Schüler ist, neben Bachmann, eine der weiteren weiblichen Inspirationen Winklers, besonders in dieser Debüt-Phase des Autors, aus der der vorliegende Text stammt.
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Winkler schreibt über "die Altäre in der Kirche [s]einer Kindheit", Pflanzen wachsen nicht in Blumenerde, sondern aus Kindersärgen, der Rettich, den die Mutter erntet, ist nicht lang, sondern kinderarmlang. Die Themen, die ihn in seinem Leben und vor allem in seinem literarischen Schaffen bis heute begleiten, sind schon in diesem frühen Werk nicht wegzudenken: der am Land praktizierte Katholizismus, das allgegenwärtige Sterben, aber vor allem das Leben. Auch wenn letzteres bei Winkler oft überlesen wird.
Das Land K
Suhrkamp Verlag
In "Wortschatz der Nacht" geht es viel direkter um die Kindheit des Autors Josef Winkler in Kärnten, als in seinen späteren Werken. Hier gibt er keinen Protagonisten an - sei er ihm in den anderen Büchern auch noch so ähnlich - sondern er selbst ist es, den wir begleiten. Zumindest erscheint es uns beim Lesen so. Die Litanei-artige Wiederholung von ganzen Passagen, Phrasen und Zitaten, für die Winkler sonst bekannt ist, fehlt hier. Vielleicht aber auch deshalb, weil er - um das oben zitierte Interview-Zitat noch einmal zu bemühen - diesen Wortrausch nie ernst genommen hat.
Tag und Nacht trage ich den Kugelkopf meiner elektrischen Schreibmaschine in meinen Jeans. Denke ich an meine Kindheit, so klammern sich meine Finger, sofort, wie um Leben zu retten, an den Buchstaben des Kugelkopfes fest, umschließen ihn mit der Handfläche, mache die Hand zur Faust, als ob ich den Kugelkopf zerdrücken und zusehen wollte, wie zwischen meinen Fingern die Säfte meiner Kindheit hervorrinnen, ehe in Zeitlupe die Mutter mit dem Hackbeil, das sie wie zum Gebet in den Händen hält, kommunizierend in die Höhe fährt und den Hahnenkopf vom zitternden, wild flügelschlagenden Körper trennt.
Auf dem Kalenderblatt in meiner Wohnung ist ein Foto von Ingeborg Bachmann vor ihrer Schreibmaschine sitzend abgebildet. Man kann nur eine Hand sehen, vielleicht zerdrückt sie in der anderen den Kugelkopf. Am Rand des Blattes steht ihr berühmtes Gedicht "Reklame". In der letzten Zeile dieses Gedichts wird eine Frage gestellt, nach deren Antwort auch Josef Winkler seit jeher auf der Suche ist:
(...)
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille
eintritt