Erstellt am: 19. 3. 2013 - 16:18 Uhr
It’s A Video Life (1)
SEBASTIAN SELIG schreibt für Deadline, Splatting Image oder Hard Sensations. Und lebt im Kino. Würde man in diesem auch nur ein wenig an den mit rotem Samt bezogenen Wänden kratzen, so würde man dahinter womöglich ein Gemäuer aus schwarzem Hartplastik-Ziegel freilegen. Kassette für Kassette das Fundament bildend.
CHRISTIAN: Da sitzen wir wieder rund um den virtuellen Kamin und parlieren, Sebastian Selig und meine Wenigkeit, diesmal mit Thomas Groh als Gast. Drei Filmbesessene, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen, lassen ihren Assoziationen zu diversen Streifen freien Lauf und driften dabei schon mal ins fantechnische Delirium. Alles mit voller Absicht natürlich.
Was uns diesmal zusammenbringt, ist aber kein aktueller Kinostart und auch nicht die gemeinsame Vorfreude auf filmische Großereignisse. Hoffentlich ohne zu sehr in die seichten Gewässer der Nostalgie abzugleiten, wollen wir jenen Orten huldigen, denen mehrere Generationen einen essentiellen Teil ihrer Persönlichkeitsbildung verdanken. Und damit sind ausnahmsweise nicht die unterschiedlichsten Arten von Kinosälen und Lichtspieltheatern gemeint.
Um die Videothek als Anlaufstelle für Kicks und Thrills, wohligen Ekel und fiebrige Emotionen soll sich dieses Gespräch drehen, auch als purer Sehnsuchtsraum und vielleicht sogar Ersatzwohnzimmer.
THOMAS GROH schreibt in Berlin über Filme, unter anderem für die taz, den Perlentaucher, die Splatting Image und die Kölner Stadtrevue. Seinen ersten Videothekenausweis besitzt er noch immer in einer Schatulle mit Jugenderinnerungen. Lange Zeit traf man ihn der Berliner Filmkunstbar Fitzcarraldo an, deren Blog er bis heute befüllt. Nebenbei kuratiert er in der Filmreihe „Die Nachtschicht“ abseitiges Genrekino. Im Netz fndet man ihn am besten in seinem Blog.
Christian Fuchs
Ansehen, angreifen, herumtragen
In Videotheken vergraben (1):
"Heat" R: Dick Richards
Burt Reynolds und Las Vegas. Zwei alte Krieger, die sich gegenseitig auszehren, aber doch nicht voneinander loskommen. Immer noch nur auf VHS zu finden, harrt dieses Meisterwerk in der Videothek meines Herzens seiner Entdeckung, die wohl alsbald eintreten könnte, entsteht derzeit doch ein Remake mit Jason Statham in der Reynolds-Rolle, bei dem ursprünglich sogar einmal Brian De Palma die Regie übernehmen wollte. (SE)
SEBASTIAN: Sind Kinos die Kathedralen, so waren es Videotheken, die für mich erstmals alles haptisch gemacht haben. Schatzkammern voller schmuckloser Spanplattenregale, in denen sich all das auftürmte, was über den viel enger bemessenen Radius der lokalen Lichtspielhäuser hinausging. Große, klobige Videokassetten in dick aufgeblasenen Plastikhüllen machten Filme auf eine Art anfassbar, wie es so im Kino niemals möglich gewesen wäre. Lediglich die amerikanischen NTSC-Tapes mit ihren deutlich minimalistischeren Pappschubern hielten sich da vornehm zurück.
CHRISTIAN: Neben dem haptischen Aspekt blieb aber der visuelle Zugang zum Medium für mich dabei zentral. So wie sich Film in meiner Kindheit zuerst einmal durch die Plakate und Aushangfotos erschlossen hat, um die ich unruhig vor dem heimatlichen Provinzkino herumkreiste, stand man in der Videothek plötzlich vor unzähligen Covers. Gerade die billigsten Schundfilmverpackungen übten eine magische Anziehungskraft aus, die der ausgeborgte Film dann auch nicht immer erfüllte.
SEBASTIAN: Erstmals konnte man Filme auch besitzen. Sie mit sich rumtragen. Sie in große, toasterförmige Geräte einführen und das, was einmal Kino war, auf profanen Fernsehgeräten grieselige Schatten seiner selbst werfen sehen. Wann immer man wollte. Das hat recht unmittelbar Jagdinstinkte geweckt. Selbst in Kleinstädten, oft gerade genau da, war es plötzlich möglich, bis in die schmierigste Tiefe reichende Archive ausfindig zu machen und beglückt zu werden.
In Videotheken vergraben (2):
„The Wormeaters“ („Night Hunter“) R: Herb Robins
Ich erinnere mich an die Zeit, als ich Bücher über sogenanntes „psychotronisches Kino“ verschlungen habe. Also Filme an der Grenze von Verstand, Budget und gutem Geschmack. Und dann finde ich doch tatsächlich in einer Videothek in Wien-Favoriten dieses bizarre Werk von 1978. Ein alter Weirdo pflegt jede Menge Würmer, mit denen er spricht und denen er Namen gibt. Und die er an seine Feinde verfüttert. Der Clou: Echte, lebende Würmer werden en masse vor der Kamera verspeist. Lange vor dem Dschungelcamp. Wenn das PETA wüsste. (CHR)
Christian Fuchs
Stapelweise Filme schleppen
THOMAS: „A long time ago, in a galaxy, far far away“ - in der Tat, auch für mich war es nicht das Kino, sondern die Videothek in meinem Heimatort, die mich mit der Filmgalaxis in Berührung brachte. Damals – wir reden im meinem Fall von den frühen 80ern und ich war noch nicht eingeschult – sogar noch auf Betamax-Tapes, von denen aus mich John Williams' euphorische „Krieg der Sterne“-Fanfaren in völlige Verzückung versetzten und mir einen emotionalen Schock verpassten, von dem ich mich wahrscheinlich bis heute nicht erholt habe. Die Videogeräte waren mechanische Klötze, die die Kassetten auf der Oberseite mit dem Nachdruck unbarmherziger Mechanik herausschleuderten, und sündhaft teuer obendrein: Zum Überspielen tat man sich deshalb mit Nachbarn oder Verwandten zusammen und lieh gleich stapelweise Filme aus, damit sich die Schlepperei lohnte.
In Videotheken vergraben (3):
"At Midnight I'll Take Your Soul" R: José Mojica Marins
Vor dem Internet-Global-Village war die Vorstellung, dass a) es überhaupt ein klassisches brasilianisches Horrorkino gibt und b) sich damit in unseren Breiten überhaupt irgendwer auskennen könnte, völlig undenkbar. Und doch hatte ich beides schwarz auf weiß vor mir, in einem aufregenden Splatting-Image-Artikel: Da hat sich also im Brasilien der 60er tatsächlich so ein Typ ein völlig eigenes, bizarres Horror-Kino gezimmert - und, fuck, beim Videodrom gab's Amitapes davon! Schon von der ersten Minute an war klar: Das hier ist Liebe auf
Lebenszeit - José Mojica Marins' Filme plündern Bildungskanon und Pulp, Philosophie und Trash, E.C. Comics und obskure Esoterik und bündeln alles zu einer grobschlächtigen, extrem süchtig machenden Geisterbahnfahrt. Wahnsinn! (THO)
CHRISTIAN: Jetzt wird es ganz schwierig, nicht in hemmungslose Sentimentalität zu verfallen. Bitte diesbezüglich um Verzeihung. Aber eure Erzählungen drücken gerade mehrere Knöpfe bei mir. Der Umzug von der ländlichen Steiermark nach Wien ließ meine Videotheken-Besuchs-Frequenz explodieren. Die unzähligen provinziellen Kinobesuche als Kind und Pubertierender wirkten nur wie eine Vorbereitung auf das darauffolgende VHS-Junkietum in der Donaumetropole. Wien war ein verdammt guter Boden damals, für alles, was sich wohl auch Herr Tarantino in Los Angeles ausgeborgt hat. Wie erging es euch im Deutschland der VHS-Ära?
Christian Fuchs
THOMAS: Seinerzeit gab's in der BRD per Antenne drei Kanäle öffentlich-rechtlichen Biedersinns von wetterabhängiger Bildqualität und mit etwas Pech noch Vergrieseltes von hinterm Eisernen Vorhang dazu. An zeitige Free-TV-Premieren wie heute war kaum zu denken: Selbst noch ollste Kamellen von Heinz Rühmann waren damals beste Sendezeitplätze am Freitagabend wert. „Krieg der Sterne“ gabs erst 1990 zum Mitschneiden auf Sat1 mit Werbeblock. Man lebte also in elender cineastischer Wüstenei – da markierten Videotheken die Tore zu einer anderen, so heiligen wie sündigen Welt.
SEBASTIAN: In diesen nach kaltem Rauch und Kunstfaserboden riechenden Hallen und Kellergewölben taten sich in einer Weise neue, aufregende Welten auf, wie sie in dieser Vielfalt in keinem noch so engagierten Kino zu finden gewesen wären. Brachen auch damals schon alle Grenzen weg. Als Waldorfschüler war ja schon Fernsehen des Teufels und so wurden bald sogenannte „Video-Partys“ zu einer gleichermaßen beliebten wie regelmäßigen Einrichtung. Fernseher wurden in Kellerzimmer oder Ferienwohnungen getragen, den VHS-Recorder gab es zusammen mit den Filmen direkt in der Videothek dazu geliehen. Mehr noch als Hollywood, das hier vor allem in Gestalt harter Jungs ein neues Gesicht bekam, waren es natürlich die grenzüberschreitenden Freuden des italienischen Horror-Kinos Mitte der 80er, die hier dann bestaunt, nein, förmlich aufgesogen wurden.
In Videotheken vergraben (4):
„Avenging Force“ („Night Hunter“) R: Sam Firstenberg
Damals (1986) schien dieser Wahnsinn ganz normal: Videotheken-Beau und American Ninja Michael Dudikoff, in den Sümpfen von Louisiana gegen Eulenmasken tragende und Pfeife rauchende Plantagen-Besitzer. Ninja unchained. (SE)
Christian Fuchs
Achtung: FSK ab Achtzehn
CHRISTIAN: Wobei die Sache mit der Filmzensur und den Altersfreigaben ja nicht unerwähnt bleiben sollte oder?
In Videotheken vergraben (5):
„Paura nella città dei morti viventi“ („Ein Zombie hing am Glockenseil“) R: Lucio Fulci
Zu einer Zeit, als die deutsche FSK schon jeden Film zu Tode zensurierte oder beschlagnahmen ließ, bin ich in einer kleinen Wiener Schmuddel-Videothek auf eine ungeschnitte VHS-Fassung dieses Meisterwerks gestoßen. Zombie-Kino als blutige Poesie zwischen Geisterbahn-Trash und Lovecraft-Anklängen. Ich besitze zwar die Originalkassette nicht mehr (hab mich ja von meiner Videosammlung komplett getrennt), aber nach der US-DVD habe ich mir unlängst die tolle BluRay davon angeschafft. (CHR)
THOMAS: Recht rasch machte mir dann auch der Jugendschutz einen Strich durch die Rechnung und ich musste lange Zeit von der Türschwelle aus zu den Schätzen in den Regalen hinübersehnen, während meine Eltern Filme aussuchten. Umso mehr stachelten einen die magazinartigen Videonewsletter an – was da alles zum Greifen nahe schlummern sollte! Und ich war auf Jahre hin zu jung dafür!
CHRISTIAN: Ich hatte Glück und altersbedingt Mitgliedskarten zu etlichen verschiedenen Wiener Videotempeln, vor allem in diversen Arbeiterbezirken, wo zwar kein Godard, aber das Gold der Exploitationära in den Regalen schlummerte. Angetrieben von den Tipps diverser Filmfreaks und bewaffnet mit Büchern wie „Incredible Strange Movies“ karrte ich jeden greifbaren Horror-, Trash-, Splatter-, Italowestern, Bikerfilm- oder Thriller nach Hause.
SEBASTIAN: Eine "Ab 18"-Freigabe galt da ja schnell als eine Art Gütesiegel, noch gieriger jagte der halbe Schulhof allem hinterher, dem gar die Weihen einer Indizierung oder noch wilder „bundesweiten Beschlagnahmung“ zuteil wurde. Umso mehr, da ja recht schnell klar wurde, diese Art von Kunstzensur, die sich hier hinter dem Deckmantel eines angeblichen Jugendschutzes versteckte, musste was vorgeschobenes sein. Möglicherweise lediglich dem ersten Schreck geschuldet, der tiefen Unsicherheit, die überwältigend unangenehme, heute zurecht als große Kunst etablierte Werke, wie das wunderbar theatralisch betitelte „Kettensägen-Massaker“ oder der „Tanz der Teufel“ auszulösen vermochten. Natürlich haben diese verstört, aber gestörter haben sie eben auch keinen gemacht, mit dem ich ihn damals zusammen sah. Zensurbedingt übrigens in einer beinahe schon ins schwarz/weiß driftenden Dritt- oder Viertkopie. Auch so ein die Materialität eines Films feiernder Effekt, den ich mir heute nicht unbedingt zurückwünsche, aber durchaus bereit bin, nostalgisch zu verklären.
Christian Fuchs
CHRISTIAN: Obwohl in Österreich eine andere Gesetzeslage herrscht, kamen die ganzen Tapes aus Deutschland und auch in Großbritannien herrschte Zensuralarm. Manchmal, bei besonders gefinkelten Jagdzügen, erwischte ich etwa diverse Zombiefilme noch in ungeschnittenen Fassungen, die nur ganz kurz am Markt waren. Oft konnte man Goreklassiker und Horrormeisterwerke aber nur in Drittkopien sehen, die einem die Tränen in die Augen trieben.
In Videotheken vergraben (6):
"Sommer der Liebe," R: Wenzel Storch
Der große, der einzige Wenzel Storch - wichtigster und unbekanntester Regisseur der deutschen Nachkriegsgeschichte! Mit Super 8, Pappe, Sperrmüll und mühsam zusammengesammelter 70s-Augenkrebs-Mode arbeitete der sensible Künstler rückblickend den "Sommer der Liebe" auf: freie Liebe, Haschbrüder, Party-Beats! Zugleich eine Reise in die Welt des Obsoleten, ob es sich nun um grelle Mode oder dufte Sprüche handelt:
Der Schutt, der von Deutschland übrig blieb - zusammengefegt, aufgelesen und liebevoll wieder zusammengeklebt. Damals noch auf Tape mit glühenden Farben - heute sorgfältig abgetastet und gemastert. (THO)
THOMAS: Dario Argento kannte man damals eher von berüchtigten Tapes aus den Niederlanden: Links und rechts den Bildüberhang skrupellos abgeschnitten, riesige holländische Untertitel (deren Idiom dem Film oft noch eine unfreiwillig komische Note verlieh), das Bild zwei bis drei Stufen zu dunkel und das alles zum Preis von um die 100 Mark.
CHRISTIAN: Ja, in dieser Hinsicht eine schreckliche Zeit. Von den Sehnsuchtsorten namens Videotheken vermag ich mich dennoch nicht zu lösen, werde jetzt gleich mal in eine aufbrechen! Freue mich dann auf die Fortsetzung dieses Gesprächs.
Christian Fuchs
Im zweiten Teil: Die Videothek als zweiter (Trash-)Bildungsweg! Selber arbeiten in Videotheken! Digital killed the videostar! USB-Sticks vs. BluRay-Revolutionen! Demnächst hier in diesem Theater...