Erstellt am: 21. 3. 2013 - 13:55 Uhr
It’s A Video Life (2)
CHRISTIAN: Wir haben uns wiedermal rund um den virtuellen Kamin gesetzt, Sebastian Selig und meine Wenigkeit, diesmal mit Thomas Groh als Gast. Diesmal um jenen Orten zu huldigen, denen mehrere Generationen einen essentiellen Teil ihrer Persönlichkeitsbildung verdanken. Um die Videothek als Anlaufstelle für Kicks und Thrills, dreht sich unser Gespräch, auch als purer Sehnsuchtsraum und vielleicht sogar Ersatzwohnzimmer.
Teil 1 unserer kleinen Videotheken-Huldigung könnt ihr hier nachlesen.
THOMAS: Als ich nach dem Abi aus der Provinz ins große Berlin zog und das „Videodrom“ kennenlernte, dessen Verleih- und Shop-Newsletter mir zuvor schon Bibeln waren: Hier begann dann meine eigentliche Filmausbildung – die Flatrate habe ich noch am Anmeldetag beantragt und schließlich ausgiebig genutzt. David Cronenberg, David Lynch, Sam Raimi und Peter Jackson kannte ich zwar vorher schon von einzelnen Werken her, doch erst hier bot sich mir überhaupt die Möglichkeit, mir deren Filmografie systematisch zu erschließen und schließlich weitere Erkundungen insbesondere auch ins asiatische Kino durchzuführen. Heute eigentlich fast unvorstellbar: Ich war damals wirklich fast täglich hin und zurück eine Stunde unterwegs, um mir beim Dealer neuen Stoff zu ziehen.
SEBASTIAN SELIG schreibt für Deadline, Splatting Image oder Hard Sensations. Und lebt im Kino. Würde man in diesem auch nur ein wenig an den mit rotem Samt bezogenen Wänden kratzen, so würde man dahinter womöglich ein Gemäuer aus schwarzem Hartplastik-Ziegel freilegen. Kassette für Kassette das Fundament bildend.
Koch Media
THOMAS GROH schreibt in Berlin über Filme, unter anderem für die taz, den Perlentaucher, die Splatting Image und die Kölner Stadtrevue. Seinen ersten Videothekenausweis besitzt er noch immer in einer Schatulle mit Jugenderinnerungen. Lange Zeit traf man ihn der Berliner Filmkunstbar Fitzcarraldo an, deren Blog er bis heute befüllt. Nebenbei kuratiert er in der Filmreihe „Die Nachtschicht“ abseitiges Genrekino. Im Netz fndet man ihn am besten in seinem Blog.
„The television screen is the retina of the mind's eye“ („Videodrome“, David Cronenberg)
SEBASTIAN: Noch vor Kubrick, Argento und Hyams, waren es die Gebrüder Golan und Globus, bei denen ich da in die Lehre ging. Ich glaube, wenn man da einmal diesen Samen des unbekümmerten Genuss eingepflanzt bekommen hat, dann schlägt das Wurzeln von solcher Kraft, dass man auch Jahrzehnte später nicht mehr ins Wanken gerät. Die Grenzüberschreitungen des höchst wundervollen Körperkinos eines Lucio Fulci oder vor allem natürlich auch Cronenbergs, der sich mit „Videodrome“ nochmals direkter als alle Anderen über VHS in den Poren festgesetzt hat, öffneten hier letztlich den Horizont ins Grenzenlose. Natürlich auch mengenmäßig. War und ist es im Kino eigentlich nur zu Festival-Hochzeiten möglich, vier bis fünf spannende Filme am Tag zu sehen, so war das dank Video plötzlich immer möglich. Na zumindest an jedem Wochenende.
CHRISTIAN: Bei mir hat die Quantität des Filme schauens damals auch definitiv ungesunde und sehr nerdige Züge gehabt. Andererseits, wie du es angesprochen hast Sebastian, prägt einen diese Erdung eben auch über Jahrzehnte. Es war eine Schule in purem Schmutz und Schund, wie Moralhüter es nennen würden, unterbrochen durch Filme von Bergman, Bunuel oder Oshima auf diversen Programmkinoleinwänden. Aber kehren wir doch zum haptischen Aspekt und dem Sammlertum zurück. VHS hieß ja auch: Videotheken zu Hause.
THOMAS: Ich verbrachte etliche Nachmittage damit, die (dann auf VHS eingepegelten) Regale geradezu abzutasten: Jede Hülle musste man herausnehmen, genau inspizieren, die Rückseite nach weiteren Informationen oder gar Bildern aus dem Film abgrasen. Fast jede Hülle wirkte wie ein Gral für sich – auch weil bei VHS erst spät Formateinigkeit herrschte, was die Verpackung betrifft. Mittlerweile hatten auch Kabel- und Privatfernsehen etwas Abwechslung in die Wohnstuben gebracht – von Monty Python bis zu ersten Ernst-Hofbauer-Retrospektiven alles, was das pubertierende Herz begehrt -, doch blieben Videotheken eine Zauberwelt für sich.
In Videotheken vergraben (1):
„The Soldier“ („Der Söldner“) R: James Glickenhaus
Ken Wahl springt mit einem Porsche über die Berliner Mauer, doch sind es vor allem der unwirkliche Terroranschlag im menschenleeren Washington, mit welchem der Film gleich grandios beginnt, wie auch der kurz in quietschbuntem Skianzug vorbeischauende Klaus Kinski, die dieses Meisterwerk des surrealen Jungsfilm adeln. Damals ein verpönter Videotheken-Schlock, heute als ganz große Filmkunst ein Kernstück jeder VHS-Sammlung. (SE)
Koch Media
„This job would be great if it wasn't for the fucking customers“ („Clerks“, Kevin Smith)
CHRISTIAN: Ihr habt im Vorfeld dieses Gesprächs angedeutet, dass ihr dann auch selber in solchen Zauberwelten gearbeitet habt?
SEBASTIAN: Zweimal habe ich selbst in Videotheken gearbeitet und beide Male derart einschneidend Erfahrungen gesammelt, dass es mir schwer fällt, das alles heute nicht enthusiastisch zu verklären. Noch während meiner Schulzeit stand ich zum ersten Mal im größten Laden der Kleinstadt an der Theke. Bei „Captain Video“ (später als DVD alles nochmal umwühlte leider umbenannt in „MoviePlus“) fühlte ich mich wie im Paradies.
CHRISTIAN: „Captain Video“, das klingt einfach großartig...
In Videotheken vergraben (2):
„Les Raisins de la Mort, “ („Foltermühle der gefangenen Frauen “) R: Jean Rollin
Der große Pariser Horror-Surrealist Jean Rollin mag viele stilvollere Filme gedreht haben. Diese schundige französische Provinz-Version von „Night Of The Living Dead“, gedreht 1978, gehört aber zu meinen liebsten Videotheken-Erinnerungen. Es geht um gefährliche Pestizide, die eine Gruppe von Weinbauern in aggressive Bestien verwandeln. Billigste und reichhaltige Splattereffekte, entfesselte Darsteller an der Laiengrenze und mittendrin die Pornokönigin der 70er, Brigitte Lahaie – Teenagerherz, was willst du mehr? (CHR)
SEBASTIAN: Peter, der mich dort schulte, war eigentlich Lehrer an einer katholischen Mädchen-Schule, aber hatte hier in der Provinz in den drei-vier Jahren vor mir, bereits ein Regal mit englischen und niederländischen VHS-Tapes hochgezogen, bei dem einen Tränen des Glücks über die Wangen laufen konnten. Wie ich machte er den Job nicht um sich was dazuzuverdienen, sondern um sich direkt an der Quelle laben zu können. Und auch was das angeht, habe ich dann damals verdammt viel von ihm gelernt. Wurde ich fit gemacht, für die höchsten Weihen, die man Anfang der 90er in Deutschland wohl was Videotheken angeht erreichen konnte: sechs Jahre in den heiligen Hallen des Videodrom Berlin. Dem einen Laden, der noch vor der Digitalisierung beinahe alles erreichbar werden ließ. Mit aller-größter Liebe und noch größerer cineastischer Offenheit kuratiert. Ein Ab-, nein Aufstieg hinein in tiefste Archiv-Keller der Filmgeschichte. Ein wahrer Tempel der Ultrakunst eben.
CHRISTIAN: In Wien war lange Zeit das mittlerweile geschlossene „Alphaville“ die aufregendste diesbezügliche Videothek in town. Eine Institution, betrieben von leidenschaftlichen Filmfanatikern, die im Repertoire keinen Unterschied machten zwischen Cineasten-Ikonen und Exploitationgöttern, Brit-Humor oder Asia-Horror. Hier wurde sicher eine ganze Generation filmisch sozialisiert.
THOMAS: Ähnliche Geschichte bei mir, wenn auch erst zu DVD-Zeiten – der Traum, beim Videodrom ins Team einzusteigen, hat sich zwar nicht erfüllt, dafür machte ein paar Jahre später eine kleine, aber feine Programmvideothek in meinem Kiez auf, wo ich alsbald nicht nur am Tresen den guten Stoff ins Viertel pumpte, sondern schließlich auch ein eigenes monatliches Anschaffungsbudget zur Verfügung hatte. Geld verdienen durch Filmekaufen – besser geht’s eigentlich nicht. Da der Laden zudem noch ein kleines Café hatte, herrschte für mich bald ein Alltag wie in Kevin Smiths „Clerks“ - man kannte seine Stammkunden, palaverte über Filme, gab Geheimtipps weiter. Um auf diese Weise zahllose Menschen mit Rolf Olsens „Blutiger Freitag“ zu beglücken. Oder holte sich Anschaffungstipps ab. Die Videothek als verlängertes Wohnzimmer einer WG mit exzellenter und stetig wachsender Filmsammlung – und Koffein gab's obendrauf. Paradiesische Zustände.
In Videotheken vergraben (3):
"Der Todesking," R: Jörg Buttgereit
"Nekromantik", der Film, dessen legendärer Ruf einst wohl unzählige Schulhöfe in Wallung versetzt hatte! Erheblich weniger berüchtigt: Buttis zweiter Film "Der Todesking", ein bedrückender Episodenfilm über Selbstmörder, der sichtbar niedriger im Kurs stand und auf den nur der stieß, der wirklich wissen wollte, was dieser Buttgereit denn sonst noch gedreht hat - ein klassischer Fall für das Durchforsten der sorgfältig gepflegten Off-Videothek also, wo mir dieser hitzig traurige, herbstlich feuchte, frühlingshaft grimmige Film in die Hände fiel, der mir nochmals vor Augen führte, was für ein Kunstpotenzial im subversiven Film schlummert. Definitiv einer meiner Lieblingsfilme und beim Soundtrack geht's mir heute noch rauf und runter. (THO)
Miramax
Digital killed the videostar
CHRISTIAN: Wir könnten jetzt noch ewig so weiterplaudern. Falls uns bis hierher aber noch wer gefolgt ist, nähern uns wir doch langsam einer Art Resümee. Das positivste am ersten Schritt in die neue Digitalära war für mich des Ende des Bandsalats, der klobigen Kassetten, der grieseligen Bilder.
THOMAS: So sehr sich die klassische Videothekenzeit auch nostalgisch verklären lässt: Man kann diesen Zeiten nicht ernsthaft nachtrauern. Mit der DVD kam da plötzlich ein Medium auf, das zu sammeln sich wirklich lohnte: Gute Transfers, richtiges Bildformat, optionale Untertitel und mit etwas Glück sogar aufschlussreiches Bonusmaterial. Ziemlich schlagartig näherten sich die Filme ihrer eigentlichen Pracht an. Heute bestelle ich mir Fulci-Kracher in exzellenter Qualität und als liebevoll gestaltete Editionen zu einem lachhaften Bruchteil des Preises, den man früher für ein deutlich mieseres Produkt verlangte. Der Begriff „Heimkino“ kommt endlich ironiefrei über die Lippen.
CHRISTIAN: Da sind wir uns sicher alle einig. Aber die DVD ist ja auch schon Schnee von gestern.
THOMAS: Wichtiger noch als die DVD waren plötzlich die Möglichkeiten des Internet: Damit meine ich gar nicht mal illegale Aktivitäten, sondern die Selbstverständlichkeit, auch im Ausland so einfach zu bestellen wie beim großen Leiharbeiter-Versandhaus, vom ganzen Filmdiskurs zwischen Gleichgesinnten in Foren, Blogs und auf Facebook mal ganz abgesehen. Zugegeben, dem Glanz von Videotheken als heilige Hallen, die in Griffnähe rückten, was man zuvor nur aus Legenden kannte, hat dies nicht unbedingt gut getan.
VHS in den Poren (1):
„Videodrome“, R: David Cronenberg
VHS-Labsal wird in Cronenbergs Meisterwerk von 1983 direkt über die Blinddarmnarbe in den Körper eingeführt. Dort einmal drin, träumt man fortan verdammt unruhig von Debbie Harrys eisblauen Lippen und auch sonst mutiert alles ganz ausschweifend zum verrucht Guten. Es lebe das neue Fleisch! (SE)
SEBASTIAN: Weil ich da einfach nicht loslassen wollte, habe ich mich lange, sicher auch viel zu lange, gegen die DVD und noch mehr den mit dem Laptop oder gar Smartphone verschmolzenen Film mit Händen und Füßen gewehrt. Dachte wirklich, da geht was verloren, was ich eigentlich niemals loslassen will. Der Videothekenbesuch. Die Ungewissheit, dabei auf alles mögliche stoßen zu können.
Rodney Ascher
Durch die heiligen Hallen irren
VHS in den Poren (2):
"Auf dem Highway ist die Hölle los", R: Hal Needham
Video killed the Porno star: Wenn Jackie Chan hier im asiatischen High-Tech-Auto mitten während der Fahrt ausgerechnet den Pornoklassiker "Behind the Green Door" einlegt, zeigt sich darin auch der Funken eines medienhistorischen Umbruchs um 1981. Da machten Pornos Video groß - und Videos die Pornostars klein. (THO)
THOMAS: Erst gestern war ich wieder in einer Videothek – bei allen Möglichkeiten des digitalen Filmbezugs, die es heute gibt, ob legal oder nicht: Natürlich haben diese Hallen noch immer ihren Reiz, insbesondere wenn sich die Betreiber auch als Kuratoren verstehen. Und die Tore in größere Welten tun sich auch heute noch auf: Im Zeitalter von BluRays und an der Schwelle zum 4K-Fernsehen sind es dann aber doch ironischerweise wieder die Videokassetten, die in Form von Video-Rips durchs Netz geistern und nochmal Filme ans Tageslicht holen, an die sonst kein Rankommen wäre: Man macht sich ja keine Vorstellungen, wie groß die Berge von Filmen sind, die den Digital-Sprung nie vollzogen haben oder werden. Ohne die semi- bis nicht-legale Verfahrensweise von Enthusiasten ist ein einigermaßen unverzerrter Blick auf Filmgeschichte heute kaum möglich – was nicht heißt, dass ich mich über hervorragende Restaurationen und liebevolle DVD- oder BluRay-Editionen nicht wahnsinnig freuen würde. Aber etwa ein Regie-Ekstatiker wie Zbynek Brynych, ein Tscheche, dessen wahnwitzigen deutschen Kinoproduktionen aus den 70ern völlig jenseits allgemeiner Zugänglichkeit liegen, wäre heute fast schon fahrlässig dem Vergessen überantwortet, gäbe es da nicht ein paar Privat-Filmhistoriker, die ihre Preziosen zugänglich machen.
CHRISTIAN: Ich bin sehr zerrissen. Ich vermisse ganz sicher nicht die alten Kassetten, ganz im Gegenteil, mich erwischte erst vor kurzem die BluRay-Revolution mit voller euphorischer Wucht. Andererseits will ich in meinem neu eingerichteten Heimkino vor allem Filme sehen und sie nicht zwangsläufig besitzen. Da kommen Videotheken zwangsläufig ins Spiel, so lange es noch geht. Bin erst vor Monaten Mitglied sowohl in einem cineastischen Verleihladen als auch in einer klassischen Action-Videothek geworden. BluRay-Rips aus dem Netz dagegen interessieren mich nicht nur aus moralischen Gründen nicht, mir sind monströse Festplatten-Archive noch immer ziemlich fremd.
VHS in den Poren (3):
„VHS“, R: Diverse Regisseure
Mit diesem Anthologiefilm, der auf grobkörnige Videobilder setzt, wollten einige der vielversprechendsten Horror-Newcomer das Found Footage Genre 2012 zu einem Endpunkt führen. Das Experiment geht nicht durchgehend auf, aber einige der schockierenden Kurzfilme haben es in sich. Die unvermeidliche Fortsetzung kommt heuer in die Kinos bzw Retro-Videorekorder. (CHR)
SEBASTIAN: Aber auch wenn DVD und Internet den Film nochmal zusätzlich entzaubert haben, ihn so begreifbar gemacht haben, dass er einem beinahe leid tun könnte, will ich das längst nicht mehr nur verdammen. Weil tatsächlich geht es ja unvermindert bunt weiter. Eskalierende Träume. Hard Sensations. Es hört einfach nicht auf. Sondern es tun sich sogar gerade dadurch auch immer wieder aufregende, neue Türen auf. Schön.
splendid film