Erstellt am: 23. 2. 2013 - 13:13 Uhr
Zerstörte Vielfalt
Wir schreiben schließlich das Jahr 2013 und vor achtzig Jahren fand in Berlin das statt, was man in der Schule im Themenblock "Machtergreifung" durchnimmt. Die Zeit, aus der das berühmte Zitat "Ick kann jar nicht so viel fressen, wie ick kotzen möchte" von Max Liebermann stammt. Diese Worte sprach der impressionistische Maler und Urberliner, der am Pariser Platz wohnte, als am Abend des 30. Januar 1933 ein pompöser Fackelzug von SA-Männern durchs Brandenburger Tor an seiner Haustür vorbei zog.
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Vor genau achtzig Jahren wurde Adolf Hitler in Berlin zum Reichskanzler ernannt - und Deutschland wurde zur Diktatur. Ende Januar 2013 nun begann das Themenjahr "Zerstörte Vielfalt", das mit mehr als fünfzig Ausstellungsprojekten und zahlreichen Veranstaltungen an die kulturelle Vielfalt Berlins vor der Machtergreifung erinnern soll.
Deutsches Historisches Museum
Seit dem 30. Januar stehen am Brandenburger Tor vierzig Säulen, die an Berliner erinnern, an Publizisten, Kulturschaffende und Wissenschaftler, Gewerbetreibende, Arbeiter und Migranten, die für die Vielfalt der deutschen Hauptstadt vor 1933 standen und das Land verlassen mussten.
Auf dem Onlineportal des Themenjahres "Zerstörte Vielfalt" kann man 200 Berliner Lebensgeschichten - von Abraham, Paul, Operettensänger bis Zuckmayer, Carl, Schriftsteller - nachlesen und bekommt eine Ahnung davon, wie bunt und vielschichtig das Leben in der Weimarer Zeit gewesen sein muss.
Auch die Berlinale hatte in ihrer diesjährigen Retrospektive mit "The Weimar Touch" das Thema der zerstörten Vielfalt aufgegriffen und Filme aus der Zeit vor 1933 gezeigt. Das Weimarer Kino ist ja durch die Vielfalt von erprobten Erzählfomen und stilistischer Experimentierlust gekennzeichnet - die Demokratisierung von Gesellschaft und Kunst zwischen 1918 und 1933 hatte in Deutschand auch zur Blütezeit des Kinos geführt.
Die Filme der Zeit behandeln die soziale Not in den Städten und den subversiven Rollentausch der Geschlechter, kennen Slapstick und Wortwitz, Lachen und Schaudern und beziehen aus der Spannung von Gegensätzen ihre schöpferische Dynamik. Zugleich profitierte das Weimarer Kino schon früh vom internationalen Austausch und den Aktivitäten deutscher Filmschaffender im Ausland.
Deutsches Historisches Museum
Mit der Machtübernahme des NS-Regimes 1933 begann die Gleichschaltung der deutschen Filmindustrie. Mehr als 2000 Filmschaffende vor allem jüdischer Herkunft mussten in den kommenden Jahren emigrieren. Die meisten Emigranten suchten in Europa und in den USA einen Neuanfang oder knüpften dort an bestehende Beziehungen an.
Wenn man heute die Misere des deutschen Films beklagt, wenn man sich die anderen künstlerischen Genres vornimmt, die blutleeren Songs, die biederen Fernseh-Serien, der fehlende Witz überall, der mangelnde Mut zum Risiko, die Unfähigkeit, so etwas wie "anspruchsvolle Unterhaltung" zu schaffen, so kann man auch achtzig Jahre später noch diese deutsche Misere auf das künstlerische Ausbluten nach der Machtergreifung zurück führen.
Und auch wenn es in den Berichten zum Themenjahr so euphorisch und optimistisch heißt, Berlin sei heute wieder eine so weltoffene, inspirierte und inspirierende Stadt, die Künstler aus der ganzen Welt anzieht - schaut man sich die Listen und Biographien der vertriebenen Künstler und Musiker an, so bleibt doch fraglich, ob diese Vielfalt in Berlin überhaupt jemals wieder hergestellt werden kann.