Erstellt am: 25. 1. 2013 - 18:38 Uhr
#aufschrei
Auf Twitter geht es heute unter dem Hashtag #aufschrei rund: Verschiedenste Frauen und Männer posten hier ihre Erfahrungen zum Thema Sexismus im Alltag. Der Hashtag hatte heute bis zu 5.000 Tweets pro Stunde, noch immer kommen mehrere pro Sekunde dazu und mittlerweile hat sich das Ganze unter dem Hashtag #outcry auch in die englischsprachige Welt verlagert.
Twitter.com #aufschrei
Woher kommt die Aufregung?
Ausgelöst hat diese Tweetlawine ein Artikel im deutschen Nachrichtenmagazin Stern: Die Journalistin Laura Himmelreich beschreibt in ihrem Porträt des FDP-Politikers Rainer Brüderle, wie der Politiker bei einem journalistischen Gespräch ihren Busen kommentiert hat oder immer wieder versucht hat, sie zu berühren - Stichwort Handkuss und Co. Himmelreich konstatiert, dass so etwas bei einem gewissen Schlag männlicher Politiker noch immer der "normale" Umgang mit jungen Frauen zu sein scheint.
Von ähnlichen Erfahrungen berichtete vor einigen Wochen auch die Journalistin Annett Meiritz im Online-Spiegel: Ihr war von Seiten der Piraten vorgeworfen worden, sie würde sich Informationen über die Partei verschaffen, indem sie mit Abgeordneten intime Verhältnisse einging. Das führte so weit, dass nach einem Treffen mit einem Informanten auf einen Kaffee innerhalb der Mailingliste der Partei allerlei gemunkelt wurde und Meiritz auf Tweets der Abgeordneten untereinander sogar als Prostituierte bezeichnet wurde.
Auf- und Gegenwind
Die - berechtigte - Verärgerung der beiden Journalistinnen, dass sie als junge Frauen von Politikern offenbar als Freiwild betrachtet werden, hat die Gemüter so erhitzt, dass eben dieser Thread auf Twitter sekündlich hunderte von Tweets bekommt. Als hätte es nur einen kleinen Anstupser gebraucht, erzählen Frauen und Männer ähnliche und schlimmere Geschichten, wie sie aufgrund ihres Geschlechts angemacht, kleingeredet oder schlichtweg ignoriert wurden.
Aber die Twittergemeinde ist hier natürlich nicht einer Meinung: Es gibt genügend Poster und Posterinnen, die das ganz lächerlich oder übertrieben oder komplett idiotisch finden. Die Männerpartei findet zum Beispiel "Mann hat unangenehmes Erlebnis: Pech gehabt. Frau hat unangenehmes Erlebnis: #Aufschrei #Sexismus" ein anderer User meint "Ich finde #aufschrei erbärmlich. Sucht euch einen Psychiater statt virtueller Aufmerksamkeit".
Was bringt’s
Wobei man sich wie bei allen solchen Twitter- oder sonstige Netz-Sensationen auch immer die Frage stellen kann: Was bringt das jetzt eigentlich? Sonderlich neu sind solche Fälle wohl nicht. Ähnliche Geschichten hat ja schon zum Beispiel die Seite ihollaback gesammelt: hier wurden verschiedenste Formen der sexuellen Belästigung auf der Straße - oder auch street harassment - gesammelt. Und im deutschsprachigen Bereich hat im letzten Jahr der Blog ichhabenichtangezeigt eindrucksvoll bewiesen, wie viele Formen sexueller Gewalt wie vielen Frauen passieren, die undokumentiert bleiben, weil die Frauen Angst haben, dass ihnen nicht geglaubt wird bzw. dass die Anzeige aussichtslos bleibt.
Twitter.com #aufschrei
Dennoch sind solche Empörungswellen und die vielen, vielen Beispiele, die dadurch aufgezeigt werden, wichtig: Allein, dass quasi jede Frau ein oder mehrere Erlebnisse dieser Art erzählen kann, zeigt, wie weit verbreitet solche kleinen Alltagssexismen sind und wie normal sie erscheinen.
Was diese Beispiele aber auch zeigen: Man/frau ist nicht alleine, es handelt sich also nicht um ein individuelles Problem sondern - wie man so schön sagt - um ein strukturelles. Das heißt, solche Verhaltensweisen resultieren - nicht nur - aus persönlichen Einstellungen irgendwelcher Individuen, sondern es gibt einen gewissen gesellschaftlichen Konsens, dass solche Anzüglichkeiten oder Nicht-Ernst-Nehmen schon okay oder vielleicht sogar normal sind. Allerdings zeigt der Twitterthread auch: Anscheinend ist dieser gesellschaftliche Konsens gerade im Umbruch.
Die Einsicht, dass es sich hier nicht um ein individuelles Problem oder um ein paar wildgewordene Emanzen handelt, die nicht "Fräulein" genannt werden wollen oder es nicht okay finden, dass man ihnen die Tür aufhält, ist eine wichtige. Denn sie bedeutet: Soll sich etwas ändern, dann geht das auch nur auf dieser gesamtgesellschaftlichen Ebene. Und das ist die Antwort auf die ganzen TwittererInnen, die da schreiben: "Regt euch doch bitte nicht virtuell auf - wehrt euch halt im Real Life" - und Ähnliches. Weil: Ich kann mich zwar wehren, aber den individuellen grauslichen Chef oder Alt-Politiker werde ich dadurch wahrscheinlich nicht ändern. Aber eine öffentliche Diskussion darüber kann den einen zeigen, dass sie nicht alleine sind, und die anderen werden nicht mehr so selbstverständlich mit dem Schweigen darüber geschützt.