Erstellt am: 24. 1. 2013 - 10:18 Uhr
Der ehrliche Abraham
Man weiß nicht, wo die Magie der Maskenbilderei aufhört und das Method Acting anfängt, aber wenn man Abraham Lincoln in "Lincoln" in Minute Vier zu Gesicht bekommt, dann ist da tatsächlich nichts von Daniel Day-Lewis zu sehen. Der ist verschwunden und hier, zu Besuch bei seinen Truppen, sitzt leibhaftig wie es scheint Honest Abe, wie man ihn aus Geschichtsbüchern und vom Dollarschein kennt. Den Rücken leicht gekrümmt, die Hände gefaltet, aufmerksam lauschend. Ein Lichtschein fällt auf nur eine Gesichtshälfte und noch so oft wird der Film stets das Profil betonen, in dem die Ähnlichkeit zwischen Day-Lewis und Lincoln am stärksten ist.
Vor dem 16. Präsidenten der USA stehen Soldaten der Union, die Teile seiner Rede von Gettysburg rezitieren. Statt etwa in einem Flashback Lincolns triumphale Rede zu inszenieren, taucht sie also nur versatzweise als Echo auf, gesprochen von denen, an die sie gerichtet war. Die Wirkung ist umso stärker und so theatralisch wie der kleine Prolog wird es später nie mehr.
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Der Mann im Staatsmann
Wie immer, wenn amerikanische Präsidenten auf der Leinwand auftauchen, geht es auch um die Suche nach dem Mann im Staatsmann. Der für 12 Oscars nominierte "Lincoln" entwirft auch das Bild eines Ehemannes, Vaters und Humanisten, in nur kleinen Gesten lässt Day-Lewis immer wieder Müdigkeit und Zermürbtheit beim so knochig wirkenden, willensstarken Mann durchscheinen. Der zum Monument erstarrten amerikanischen Ikone Lincoln wird Leben eingehaucht und das fast ganz ohne Spielberg-Pathos. Drehbuchautor Tony Kushner bricht die Legende runter. Wir sehen Lincoln hoch zu Ross, an Verhandlungstischen und am Rednerpult, wir sehen ihn aber auch, wie er seinen schlafenden Sohn ins Bett trägt oder seiner Frau schon mal hilft, das Korsett aufzuschnüren. Ein Abe-B-C des täglichen Lebens, politisch wie privat.
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Lincolns Mission
Das Drama ist kein Biopic, sondern eine Chronik der letzten vier Monate in Lincolns Leben. Der Bürgerkrieg tobt seit vier Jahren, hat bereits bis zu 600.000 Tote gefordert und das Land ist zerrissen. Lincolns Frau Mary (Sally Field) hat sich vom Tod ihres kleinen Sohnes Willie nie erholt und huscht wie ein Geist durchs weiße Haus, schwankend zwischen Hysterie und Verzweiflung. Und weil Spielberg so ganz ohne Vater-Sohn-Konflikt doch nicht auskommt, stürmt irgendwann Joseph Gordon-Levitt mit Schnurrbärtchen zur Tür herein und erklärt seine Absicht, in den Krieg zu ziehen. Der Weiße Haus Segen hängt also zeitweise schief und Lincolns politische Mission bringt ihm nicht nur von den gegnerischen Demokraten Argwohn entgegen. Lincoln will die Durchsetzung des 13. Verfassungszusatzes, der die Sklaverei verbietet.
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Reaktionäre Demokraten und revolutionäre Republikaner
Das ist unvorstellbar für die reaktionären Demokraten ein Pack übellauniger Griesgrame - "Lincoln" ist wohl einer der wenigen Filme, in denen die Republikaner die Guten sind - und das Verbot der Sklaverei ist noch viel zu wenig für den wütenden, radikalen Gegner der Sklaverei Thaddeus Stevens (Tommy Lee Jones). Der will auch die gleichen Rechte für alle in der amerikanischen Verfassung sehen. Zwischen den beiden Extremen gilt es diplomatisch wie überzeugend auf der stürmischen politischen See zu navigieren.
Dabei muss allerdings nicht alles mit reinweißen Westen erledigt werden, auch wenn man als Honest Abe in die Geschichte eingehen wird. Ein Triumvirat an einfallsreichen Lobbyisten wird also vom Lincoln-Vertrauten und Secretary of State William Seward (David Strathairn) losgeschickt, um Stimmen zu fangen. Und weil der Zweck die Mittel heiligt, finden Gegengeschäfte, Bestechungen und Manipulationen statt. Is it illegal to bribe Congressman? fragt Seward. They would starve otherwise erklärt einer der drei.
James Spader als dicklicher, sarkastischer und exzentrischer Anwalt und Unternehmer, ist der schlaue Fuchs in Hofnarr-Verkleidung, der tatsächlich einen Hauch von Slapstick in die getragene Ernsthaftigkeit des Films bringt. Die Montagen der drei trickreichen Musketiere und ihre schwindligen, aber erfolgreichen Methoden sind Momente des comic relief, in einem wortgewaltigen Film, in dem sehr oft Männer mit Perücken einander anschreien und die Fäuste erheben.
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Politisches Protokoll
Verhandlungen, Sitzungen, Diskussionen, Kompromisse: Die Politik ist ein langwieriges, mühsames und zermürbendes Spiel. Und doch wird "Lincoln" nie zum steifen Historiendrama mit gehüstelten Stehsätzen. Eine Kamera, die stets in Bewegung zu sein scheint und die Figuren umtänzelt, treibt den Film ebenso voran, wie die Verdichtung von Geschichte zu einem politischen Unterfangen unter Zeitdruck. Eine Delegation aus dem Süden ist auf dem Weg nach Washington. um über ein Ende des Krieges zu verhandeln. Doch wenn das öffentlich wird, dass man den Frieden herstellen kann, ohne für ein Ende der Sklaverei zu sorgen, wird wohl niemand mehr für den 13. Verfassungszusatz stimmen. Lincoln braucht die Stimmen also schnell.
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Im schummrigen Licht von Öllampen und Kerzen zeichnet Spielberg ein opulentes, entstaubtes Sittenbild, das handwerklich und schauspielerisch in der "Meisterwerk"-Liga spielt, gerade weil Spielberg auf Pathos weitgehend verzichtet und einen nicht überwältigen will. Am eindrucksvollsten sind in dem wortgewaltigen Epos allerdings oft gerade die Szenen ohne Dialog. Wenn Lincoln vor einem Spitzenvorhang zur schwarzen Silhouette wird und hilflos neben seiner weinenden Frau steht, oder wir ihn von hinten sehen, wie er durch einen langen Gang des Weißen Hauses geht, mehr Gespenst als Präsident.
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Kritik von Historikern
Als historical fiction bezeichnet Regisseur Spielberg seinen Film und nimmt damit eine leichte Korrektur an dem vor, wie einem der Film auf der Leinwand begegnet. Als Nachhilfe im Geschichtsunterricht. Und tatsächlich sind sowohl die eigentümliche Perücke als auch der grumpy cat-Gesichtsausdruck, den Tommy Lee Jones als Stevens an den Tag legt, historisch verbürgt. Nur im großen Ölgemälde namens "Lincoln" gibt es eine Auslassung, die zur großen verpassten Chance des Films wird. Was Historiker kritisieren ist das Fehlen der Bedeutung der schwarzen Bevölkerung im Kampf um Emanzipation und die Abschaffung der Sklaverei. Abgesehen vom Beginn, wo wir schwarze Soldaten in den blauen Uniformen der Union auf dem Schlachtfeld sehen, während im Hintergrund die US-Flagge die Leinwand von rechts nach links quert, bleiben sie unsichtbar bzw. in passiver Rolle.
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Elizabeth Keckley, so die wichtige Information, die einem der Film verschweigt, war nicht nur die Vertraute von Mrs. Lincoln, sondern Näherin, Aktivistin und Autorin. Gloria Reuben darf als Keckley aber bloß neben Sally Field in der Theaterloge sitzen und ihr beim Ankleiden helfen. Lydia Hamilton Smith war Geschäftsfrau und - so vermuten Historiker - die Frau von Thaddeus Stevens hat bloß einen Kurzauftritt, der von Tommy Lee Jones Glatze überstrahlt wird. Stevens wird ihr gegen Ende den auf Papier niedergeschriebenen 13. Verfassungszusatz mit nach Hause bringen. Das Verbot der Sklaverei und die Emanzipation werden somit - wie es Kate Masur in der New York Times beschreibt - zum Geschenk der weißen an die schwarze Bevölkerung.
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Und wessen Abszenz Historiker am meisten verärgert und verwundert, ist die von Frederick Douglass. Ein ehemaliger Sklave und Freund Abraham Lincolns, ein Botschafter und US Marshall, der sich dafür eingesetzt hat, dass schwarze Soldaten - zumindest soldtechnisch - gleich wie weiße behandelt werden. "Lincoln", das detailreiche Protokoll eines politischen Triumphs hätte auch der Film sein können, der zumindest ein wenig Kerzenschein auf die Rolle der Schwarzen im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei wirft und sich von von passiven Stereotypen verabschiedet.
Es ist zwar relativ sinnlos, zwischen "Lincoln" und "Django Unchained" Vergleiche anzustellen, aber es ist doch ganz gut, dass sie zur gleichen Zeit in den heimischen Kinos laufen. Nach den zweieinhalb Stunden mit dem ehrlichen Abraham sollte man (wieder) bei Django vorbeischauen, nur um sich von der emanzipatorischen Wucht dieser Geschichte zu überzeugen und sich der Leerstelle in "Lincoln" bewusst zu werden.