Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "The Song Reader Road Test"

Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

10. 1. 2013 - 19:07

The Song Reader Road Test

Ein Selbstversuch am in Notenform veröffentlichten neuen Album von Beck. Samt schamlosem Soundfile.

Ich war skeptisch, so skeptisch, als ich zum ersten Mal von Becks "Song Reader" hörte. Seine Lieder nur als Noten zu veröffentlichen, das ist zwar einerseits ein gewitzter Kommentar zur Entwertung der Aufnahme im mp3-Zeitalter, aber andererseits auch ganz unverschämt reaktionär.

Dieser ganze puristisch elitäre Gestus, dass Becks Songs nur hören soll, wer auch Noten lesen und singen und spielen kann, dazu das Layout des Readers, gehalten in der nostalgischen Zwischenkriegsästhetik der goldenen Ära des Songwritings, also vor dem Terror der Tonträger und vor allem vor dem Rock'n'Roll, der den Dilettanten später Tür und Tor öffnen sollte... Alles gar nicht meins!

Ich glaube schließlich an das Theater des Popsongs, ob als festgehaltener Augenblick oder als pures Kunstprodukt aus dem Studio, nicht an seine Regieanweisungen. Pop definiert sich schließlich vor allen anderen Dingen durch den Sound.

Ich hab ihn also ignoriert, den "Song Reader", wie so vieles, was Beck in letzter Zeit gemacht hat (da bin ich nicht stolz drauf, aber ehrlich). Und dann kam die Anfrage der Redaktion, ob ich nicht was dazu machen könnte.

Natürlich musste ich ja sagen und natürlich gab es keinen anderen Zugang als den Selbstversuch. Das reizte die Eitelkeit und machte Angst zugleich. Meine an mich selbst gestellte Vorbedingung war, keine der auf Songreader.net oder sonstwo geposteten Interpretationen anzuhören, sondern alles so zu spielen, wie ich es selber las.

Das war schließlich das Spannende an der Sache: die seltene Möglichkeit, sich aus jemandes anderen Song sein eigenes Original zu basteln. Außerdem war ich im Synkopenlesen immer schon eher mies, da konnte also durchaus irrtümlich was ganz Neues herauskommen, das so nie vorgesehen war.

Ich begann, in den zwanzig Songs zu blättern und stieß prompt auf Textzeilen wie:

"You can't turn Tin Pan Alley into a boulevard
And go whistling past a graveyard"

Solche wissend ironischen Anspielungen auf die reimlexikalischen Exzesse der Berufssongschreiberei des Brill Building bestätigten gleich alle meine Vorurteile.
Was war denn das für ein postmoderner Scherzartikel?

Aber dann fanden sich da Songs, die mich reizten, schon vom Titel her. Zum Beispiel "Why Does A Heart That Longs To Hold You Have Two Hands That Won't", verwirrenderweise beschrieben als "The Best Ballad That Scarlett Weiss Ever Wrote".

Als ich die Noten zu spielen anfing, begann der "Song Reader" plötzlich zu leben. Man tastet sich vor, man irrt sich, man leckt Blut und will mehr hören. Man sitzt mit nichts als einem Notenzettel vor sich da und hört völlig überraschend Beck aus sich herauskommen.

Gitarre und Beck-Noten im Büro

Robert Rotifer

Am eindeutigsten empfand ich dieses spukige Gefühl bei "Saint Dude", dem ersten wirklich berührenden Song in diesem Reader, der über die Grenzen der Spielerei eindeutig hinausging.

Ich war dabei, neues über Becks Songschreiberei zu lernen. Die Akkordfolgen sind sehr simpel, aber seine Melodieführung zieht oft gleichzeitig in eine andere Richtung. Jenes brutal die Terz verleugnende E über dem H-Moll-Akkord in "Saint Dude" ist genau das, was dem Song seine Becksche Färbung verleiht.

Das war der Stand gestern Abend, die letzte Erkenntnis vor dem Abendessen. Und heute bin ich mit dem Wissen aufgewacht, dass ich einen Beitrag für die Sendung Connected zu produzieren hatte.

Ich hatte dafür bisher nicht mehr Hörmaterial zu bieten als den Mitschnitt meiner ersten Gehversuche vom Abend zuvor.

Ich warf mich also noch einmal in den "Song Reader", und prompt geschah das Unvermeidliche: Ich fand ein Lied, das mir vom Blatt weg nahe ging. Das ich ganz spielen und aufnehmen und in die Welt hinausschicken wollte, mit Hall und Echo drauf. Das Lied heißt "Sorry" und klang heute Nachmittag bei mir im Büro so:

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Der nächste Schritt war, meine Version mit einer anderen zu vergleichen. Ich ergooglete mir eine Sammlung von "Song Reader"-Interpretationen und fand darin eine Fassung meines Lieds, gespielt und gesungen von ein paar bärtigen Gesellen mit dem furchtbaren Namen Song Preservation Society, die mich nicht vom Hocker riss.

Rotifer spielt Sorry

Robert Rotifer

Der seltsame Fall des Beck Hansen
Der amerikanische Musiker Beck setzt seit 20 Jahren vor allem auf eines: die Herausforderung (Susi Ondrusova).

Und um ehrlich zu sein (ich sage das nicht bloß aus Solidarität zum Sender), hat mich außer der für FM4 produzierten, übrigens sehr frei ausgelegten Mile Me Deaf-Version von "Just Noise" noch gar nichts, was ich bisher an Interpretationen gehört habe, sonderlich mitgerissen. Ich nehme an, anderen geht’s mit meinem "Sorry" genauso.

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Aber das Eigenleben, das diese Cover-Versionen erlangt haben, die eigentlich allesamt Originale sind (oder auch nicht, weil die Leute ja längst voneinander abhören), macht den "Song Reader" dann doch zu einem aufregenden Unternehmen.

Nicht zuletzt, weil er mich und all diese anderen Leute dazu gebracht hat, uns so intensiv wie schon lange nicht mit einem neuen Album zu beschäftigen.

Ich zumindest fühle mich dem "Song Reader" näher als jedem anderen Beck-Album seit "Mutations" und das ist lange her.

Noch eine letzte Beobachtung: An der Schule meines Sohns spielt - so kommt es mir zumindest vor - in etwa ein Drittel, wenn nicht die Hälfte der Schüler in einer Band (es ist eine Boys School). Jeder fünfte hat einen Telecaster, manche ein Saxophon, andere einen Bass, ein Schlagzeug oder sonstwas. Man covert beim Schulkonzert The Cure, die Stooges, Bowie, Nirvana, Bloc Party. Natürlich besitzt keiner dieser Boys die dazugehörigen Platten.

Vielleicht, hab ich mir beim letzten Schul-Gig gedacht, ist das Musikmachen das zeitgenössische Äquivalent zum Plattensammeln früherer Generationen.

Und vielleicht trifft der "Song Reader" insofern sogar einen von postmodernen Retro-Witzchen weit entfernten Punkt.