Erstellt am: 29. 11. 2012 - 16:55 Uhr
"Drüberleben"
"Erstmal merkst du überhaupt nichts. Du räumst die Wohnung auf, die Flaschen weg, und du atmest weiter ein, und die atmest weiter aus, und du isst weiter dein Essen und rufst weiter die Nummern in deinem Telefon an, und du gehst weiter nach draußen, und du gehst weiter in dein Büro und dein Bett wenn es Zeit für dich ist. Du bemerkst die Schäden, aber weil alles andere noch steht, weil die Autos noch fahren, die Busse weiter für dich halten, die Verkäuferin noch mit dir spricht, weil du noch ausscheidest und schwitzt und dir die Schuhe zubinden kannst und weil du keine einzige blutende Wunde zu versorgen hast und weil keine einziger Schlauch in dir steckt, denkst du, dass du noch ein bisschen weitermachen kannst."
So fängt sie an, eine depressive Phase die sich langsam heranschleicht, sagt Kathrin Weßling. Bis man dann eines Tages feststellt, dass man nicht vor 13 Uhr das Bett verlassen kann, schon ab Mittag trinkt und es generell nicht schafft, sich einen Zentimeter in irgendeine Richtung zu bewegen.
Kathrin Weßling
Kathrin Weßling hat selbst einige depressive Schübe und mehrere Aufenthalte in der Psychiatrie hinter sich. 2009 hat sie sich entschlossen über ihre Krankheit zu schreiben und auf dem Blog "drüberleben" über ihre Erfahrungen mit Krankheit und Klinik geschrieben. Dafür hat sie vom feministischen Blog Mädchenmannschaft 2010 den Titel "Bloggermädchen des Jahres" bekommen.
Jetzt hat sie ihren ersten Roman veröffentlicht – ebenfalls unter dem Titel "drüberleben". Allerdings geht es darin nicht um sie selbst, sondern Kathrin Weßling schickt die fiktive Figur Ida Schaumann durch die Depression und in die psychiatrische Klinik.
Warum bist du hier?
Die Ida Schaumann in Weßlings Buch befindet sich mitten in einer depressiven Phase, liegt nur mehr im Bett und hat keine sozialen Kontakte, außer gelegentliche Baraufrisse. Weil sie erkennt, dass sie da alleine nicht wieder rauskommt, weist sie sich selbst in die Psychiatrie ein. In der Klinik gibt es MitpatientInnen die ähnliche Probleme haben, deren Depressionen aber trotzdem nicht die gleiche Depression sind, wie die von Ida. Es gibt immer wieder die Frage "Warum bist du hier?" – von ÄrztInnen wie von MitpatientInnen, auf die Ida keine genaue Antwort weiß. Denn hinter der nüchternen Diagnose Depression stecken viele unterschiedliche Dinge, steckt Angst, Wut, Frustration und Verunsicherung, und auch immer wieder die Frage nach dem Warum.
Nach und nach bekommt man Idas Geschichte mit: Es geht um ein Mädchen, dass von klein an einsam ist, um eine Jugend in der engen Kleinstadt und um das Warten auf eine Zukunft, wo das Leben wirklich anfängt, um den Tod einer engen Freundin. Über alledem grübelt Ida immer wieder nach, warum sie so geworden ist, ohne aber festlegen zu können, ob eines dieser Erlebnisse es war, das sie depressiv gemacht hat. Wir begleiten sie zu Stätten ihrer Jugend, zu Treffen mit verständnislosen Jugendfreunden und überforderten Eltern und finden – so viel darf verraten werden – heraus, dass es nicht das eine böse Erlebnis ist, dass die Depression auslöst und, dass es mit dem Aufarbeiten dessen, auch nicht automatisch wieder bergauf geht.
Während das Klinikpersonal im Buch ein wenig wie aus der Klischeekiste stammt (die strenge, herrschsüchtige Stationsschwester, die alle Spielchen kennt, die altkluge Therapeutin und der zerstreute Professor), und die MitpatientInnen und ihr Verhalten in der Gruppentherapie humoristisch bis zynisch betrachtet werden, sind es Idas Grübeleien und die verzweifelte Suche nach dem Grund für das Nicht-Funktionieren-Können, die das Greifbarste und Packendste an der Erzählung sind. Zwar beginnen sich die Gedankenkreisel, die Schuldfrage und die Frage nach der Lösung nach einiger Zeit ein wenig zu wiederholen, aber das macht vielleicht auch das Authentische des Buchs aus: Dass man, wie Ida sagt, die Gründe schon hundert- und tausendmal erörtert und analysiert, mit TherapeutInnen und FreundInnen durchgekaut, aufgeschrieben, rausgekotzt und ausgeweint hat. Und noch immer nicht die Antwort weiß.
Goldmann
Eine Depression ist nicht witzig
Kathrin Weßling selbst hat wie bereits erwähnt solche depressiven Schübe und mehrere Aufenthalten in der Psychiatrie hinter sich. Seit einigen Jahren bloggt sie darüber – aber nicht zu therapeutischen Zwecken wie sie sagt "Wer mich therapiert ist meine Therapeutin. Das Schreiben ist mein Job und meine Form des Ausdrucks."
Schon der Untertitel des Buchs "Depressionen sind doch kein Grund traurig zu sein" macht klar, dass das Thema nicht nur bierernst und todtraurig angegangen wird. Weßling sagt im Interview, sie habe sich diesen Galgenhumor mit der Zeit einfach zugelegt, um mit der eigenen Krankheit umzugehen. Im Buch mit Humor zu spielen, sei aber immer ein Drahtseilakt: "So eine Gruppentherapie hat schon eine Form von Humor, von Außen wirkt das oft sehr skurril. Aber andere Situationen vertragen zum Beispiel keinen Humor: Eine Depression ist nicht witzig!" Denn keinesfalls wolle sie sich über Betroffene oder ihren Versuch, mit der Krankheit umzugehen, lustig machen.
Mit dem Blog aber auch dem Buch möchte Kathrin Weßling ein Stück weit über Depression aufklären– dass sie eine Krankheit ist, die aber behandelt werden muss. "Wo es hakt ist das Gesundheitssystem. Menschen warten teilweise viel zu lange auf einen Therapie- oder einen Klinikplatz! Ein schwer Depressiver kann nicht ein Jahr lang warten, bis er Hilfe bekommt."
"Drüberleben" ist im Goldmann Verlag erschienen
Überhaupt wird viel zu wenig getan, um Depressionen oder andere psychische Krankheiten zu vermeiden, sagt Kathrin Weßling. Im Gegenteil - in unserer Gesellschaft wird sogar mehr dafür getan, dass die Menschen verrückt werden, meint sie: "Dieser Leistungsgedanke und der Gedanken der totalen Optimierung, erschöpft die Menschen. Man soll super aussehen und dabei super fit sein, einen Superjob und eine Superbeziehung haben und dabei noch superviel Spaß haben! Das Leben wie im Fernsehen, das schafft doch keiner! Und die, die es schaffen, haben so viel Angst es zu verlieren, dass sie auch krank werden."
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Depressionen-Schwerpunkt auf FM4
Auch in der Homebase beschäftigen wir uns heute (29.11) noch einmal mit dem Thema Depression bei jungen Menschen: Daniel Grabner hat Betroffene und ihre Angehörigen begleitet. Und Dani Derntl hat bei ExpertInnen nachgefragt, wie man eine depressive Erkrankung denn erkennen und von nur "Traurig-Sein" abgrenzen kann. Im Jugendzimmer (19-20:15) am Freitag, 30.11. ist Michael zu Gast, der die Selbsthilfegruppe "Sturzflieger" leitet für junge Menschen, die an einer bipolaren Störung leiden.