Erstellt am: 4. 11. 2012 - 16:53 Uhr
Iceland Airwaves 2
Pressereisen sind ein Highlight im Leben des selbstgefälligen synaptisch überreizten Profipopkulturrezipienten. Man wird an der Hand genommen, irgendwohin geführt, es wird einem genau erklärt, was jetzt wichtig ist, und man muss sich nicht einmal mehr um die Erfüllung von elementaren Grundbedürfnissen wie Essen und aufs Klo Gehen kümmern, weil auch das einem genau gesagt wird: „Jetzt macht der Bus eine Toilettenpause und jetzt ist das Buffet bereitgestellt.“ Die Eigenverantwortung wird auf Null geschraubt. Es ist fast so gut wie DJ sein und weinend seinen Booker anrufen können, wenn der Abholdienst am Flughafen 15 Minuten zu spät dran ist, aber das führt jetzt wohl zu weit.
Pressereisen oder Ausflüge sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen, und so saß auch ich voll Begeisterung mit 50 anderen Medienclowns in einem Reisebus, um die Airwaves Pressetour anzutreten. Wir werden im Studio von Sigur Ros herumschnüffeln können, im Atlantik baden, isländische Musikanten werden ihr Talent für uns im Opernhaus zum Besten gegeben. Nichts von alldem ist geschehen, da der Wind der bestimmende Faktor dieses Tages sein sollte, aber dennoch war es einer der amüsantesten Nachmittage der letzten Zeit, der mich so erfüllte und beschäftigte, dass ich sogar die abendliche Vodka-Verkostung in den Wind schlug.
nataliebrunner
Ich verließ das Hotel und musste feststellen, dass der lange Arm von Sandy bis nach Reykjavik reicht. Das Nachbarhaus hatte kein Dach mehr. 15 Sekunden später hatte ich auch schon etwas im Auge, das mir ziemlich weh tat. Ich kämpfte mich zum Presseexkurssionsbus und tatsächlich, es ist eine wirklich und wahrlich ernstzunehmende Wettersituation, man darf die Stadt nicht verlassen, weil es Autos von der Straße weht und statt den Produktionsgeheimnissen von Sigur Ros würden wir den Bürgermeister kennen lernen.
Ich hätte vor Freude geschrien, hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass der Bürgermeister, Jón Gnarr, zwei Jahre seines Lebens in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche verbracht hat und seine Kandidatur eigentlich ein Scherz war, der dann doch in einer funktionierenden Stadtregierung endete.
Der Bürgermeister war im Sturm verschollen, an seiner Stelle war die Nummer zwei der Stadtregierung zu gegen. Einar Örn, Sekretär für Kultur und Tourismus, Gründer der Sugarcubes und seit 9 Jahren Ghostdigital.
Was in den nächsten 60 Minuten folgte, war eine ironische Dekonstruktion des Begriffs Politiker und eine der lustigsten geistreichsten Performances die ich in letzter Zeit gehört habe. Ich würde diesen Mann, der sich als Anarcho Surrealist bezeichnet jeder Zeit wählen auch ins europ Parlament, wird aber nicht möglich sein, weil er meinte er werde noch vor den nächsten Wahlen einen Skandal inszenieren um sich aus den Amt zu katapultieren.
nataliebrunner
Der Bürgermeister tauchte schließlich auf nickte freundlich und die politische Führungsriege Reykjaviks wies uns noch darauf hin, wann sie mit ihren Bands spielen werden, und war auch zu vernünftiger Argumentation fähig, als jemand nach einem kürzlich geschlossenen Kulturzentrum fragte.
Am Abend war Ghostdigital auf der Bühne die manische Präsenz, die mir nach drei Tagen ätherischer Idietronica gefehlt hat. Ein Spoken Word Performer, den man sofort und gern durch seine mäandernden Touren in die psychotischen Randgebiete der Schaltkreise des sich ins Digitale auflösenden Geistes folgt. Sprich, der Typ erzählt davon, wie er sich in seine Couch verwandelt, und klingt dabei wie eine Mischung aus Suicide und den Platten, die auf dem großartigen Label Word Sound veröffentlicht worden sind.
nataliebrunner
Neben den großen, den Geist elektrisierenden Freuden wurden mir an diesen Tage auch neue weltliche Genüsse offenbart.
nataliebrunner
Hermigervill ist ein großer Held in Reykjavik 101. Er quietscht mit seinen Synthesizer wie das legitime Lovechild von Helge Schneider und Sirius Mo und das anwesende Publikum in Disco-Funk-Extase singt die Texte zu den instrumentalen Nummern, die Coverversionen von isländischen Popklassikern sind.
nataliebrunner
Im sehr beindruckenden Veranstaltungs- und Conventioncenter Harpa kriegen meine Freunde leichte Höhenangst und Jimi Tenor spielt Finanzkrisen-Reggae. Die Nummern kreisen um Mantras wie "Money is my Master" oder "The Black Knight is gonna eat your Soul". Jimmi Tenor ist im mit Spiegeln besetzten, nordafrikanisch inspirierten Zauberermäntelchen gewandet, die Band trägt Superheldencapes.
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- Teil 1: Ponys, Spaß und die Traurigkeit von polnischen Schokoriegeln
Überforderung stellt sich ein. Ich kann mich nicht auf derart viele kompakte Inszenierungen und Ideenwelten einlassen und bevor ich auf Autopilot schalte und für den Rest der Nacht im Zombie-Modus von einem Konzertsaal zum nächsten taumle und eh nichts mitkriege, lasse ich mich von dem Eissturm in mein Bettchen tragen.