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Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

4. 11. 2012 - 10:58

Iceland Airwaves

Ponys, Spaß und die Traurigkeit von polnischen Schokoriegeln

Als ich ankündige, nach Island zum Iceland Airwaves zu fahren, meint mein geliebter Chef, nein, das kann ich vergessen. Erstens möchte er keine Geschichten von Björk, Elfen und musizierenden Zwillingen in Reykjaviks Hipsterbars mehr lesen. Und zweitens hat er mich durchschaut und kennt meine Vorwände, um mit Hot Boys in einem Spa abzuhängen, das so aussieht, als wäre es auf dem Planeten Vulkan.

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Ich fahre natürlich trotzdem, es wäre ja noch schöner, wenn ich jetzt in meinem hohen Alter auf die rationalen Einwände von mir nahe stehenden Kollegen eingehen würde. Eine Kapitulation sozusagen. Niemals.

Ich fliege von Berlin nach Reykjavik. Vor drei Wochen hat mir eine Freundin erzählt, wie sie sich in einer Berliner After-Hour-Spelunke köstlich mit oder über ein isländisches Pärchen amüsiert hat, das versuchte zur frühen Nachmittagsstunde dem Partyvolke zartfühlige Indietronica näherzubringen, er im Frack und Zylinder, sie im Fuchspelz.

Mein Flug hat drei Stunden Verspätung und ist voll mit Pärchen mit Zylinder, Gitarrenkoffer und Fuchspelz, die, sobald wir am Flughafen ankommen, also um halb vier Uhr früh, den Duty-Free stürmen. Der erste und bei weitem nicht letzte surreale Moment dieser Expedition.

Das Airwaves ist eines dieser Festivals, bei denen man eigentlich gar kein Ticket braucht. Die meisten der Bands, die während der vier Tage abends in den Festival Locations sieht, kann man auch untertags in den Galerien, Geschäften, Museen und Parkplätzen der Stadt sehen. Es gibt 450 Konzerte in Off Locations bei freiem Eintritt. Das ist der Reiz des Festivals und das macht das Airwaves besonders. Wie es ist nach ewigem Anstehen in der Kälte eine Band in einem dunklen Pub zusehen, eingezwängt zwischen Menschen, denen dionysische Genüsse genau soviel bedeuten wie apollinische, darüber brauch ich euch wohl nichts erzählen.

Es ist großartig von Elektro Guzzi aus dem nachmittägigen Disco Nap geholt zu werden, weil sie einfach so im Hof gegenüber des Hotels spielen. Die Menschen, die tapfer dem Eissturm trotzen, haben sich meiner Einschätzung nach nicht einen ausgeklügelten Plan zurechtgelegt, welchen Hype sie wann und wo auf keinem Fall verpassen dürfen, sondern sind einfach vorbeigekommen und haben das, was aus dem Function One System dröhnt, für wert befunden den Kampf gegen einen gefühlten tausend Grad kalten Eissturm aufzunehmen.

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Schimpft mich Banause aber von 70 Prozent der auftretenden Bands hab ich noch nie etwas gehört. Zieht man die Nervosität der jungen Menschen auf den Bühnen in Betracht, überkommt einen der Verdacht, dass jeder und jede Isländerin, die auch nur ein Instrument halten kann, irgendwann im Laufe des Airwaves auftritt, was auch ganz ok ist, weil viele der Locations sowieso schon voll sind, wenn man seine Eltern und Freunde einlädt.

Den ersten Abend beschließe ich, mir den Act anzusehen, dessen Namen ich am öftesten von vorbeigehenden Passantinnen aufschnappe, ja so macht das die Musikjournalistin von Welt. Prinspolo, der sich nach einem polnischen Schokoriegel benannt hat und die bei der Morr Music Night im Idnó alle sehen wollen. Ich habe größten Respekt vor den Menschen, die Stunden lang in der Kälte vor dem nach 18. Jahrhundert aussehenden Konzertsaal stehen, und versuche mich beim Hintereingang reinzuschleichen. Das Idnó sieht so aus wie das Wohnzimmer meiner Uroma und ich frage mich, ob es einen anderen Ort auf der Welt gibt, wo man antike Kostbarkeiten im Chillout Floor total ungeschützt herumliegen lassen kann.

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Ich verstehe kein Wort von dem, was Prinspolo singt, aber ich bin große Bewundererin von Heroisierungen des fragil ironischen Scheiterns und dieses Foto kombiniert mit diesem Zitat aus der Biographie des Prinzen dürfte auch klar machen, worum es in seinen mit Gitarrengeklimper unterlegten Liedchen geht: He worked on a farm as a child where he studied singing with a walkman and a shovel.

Untertags mache ich das, was alle tun, ich lungere in open air Natur-Pools herum, die so aussehen, als wären sie auf einen andern Planeten.

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Ich fahre durch unglaubliche Landschaften, die spannender sind als jede Game-of-Thrones-Folge, belästige ein Pony mit meiner Zuneigung und höre Freunden zu, die sich darüber unterhalten, ob die global bekannte isländische Musik, also die Fixstarter, Björk, Mum, Sigur Ros und Co, so klingt, wie sie klingt, weil man hier ständig und überall den Wind rauchen, pfeifen, ächzen und jaulen hört, sodass man zwangsläufig ein anderes Verhältnis zu Echo-Raum und Rauschen bekommt.

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Der nette Herr, der mich am nächsten Tag im Auftrag der Tourismusbehörde zum Bürgermeister bringt, bestätigt das: Er meint, diese Musik ist dazu gemacht, um sie gut eingepackt mitten in einem Sturm zu hören. Bevor ich euch mehr darüber erzähle, wie ich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Raum mit Politikern war und nicht das Bedürfnis verspürte sofort meinen Mageninhalt wieder von mir zu geben, später mehr. Lasst mich noch ein paar Huldigungen an die Bands, wegen denen ich angereist bin, los werden: Thee Satisfaction und Shabazz Palaces.

Beide Bands arbeiten an einem jeweils sehr speziellen Entwurf von Hip Hop, schreiben jede für sich eine neues Kapitel in der Geschichte diese Genres, in dem so viel möglich ist, und beide sind auf dem 90er-Jahre-Gitarrenhelden-Label Sub Pop unter Vertrag.

Shabazz Palaces spielen ein Intro, das nach nordafrikanischem Jazz klingt, Beduinen-Psychedelic, und dann bauen sie über eineinhalb Stunden einen Groove, der sehr trocken und abstrakt ist, den Kopf aber nicht in den Wolken verliert, sondern sehr wohl auf die Härte und Ungerechtigkeit, die das Leben bereit hält, fokussiert, ein an Sun Ra erinnerndes Strahlen aus einer anderen Dimension. Shabazz Palaces sind arty und Gangster, wenn man mir diese Flapsigkeit eines Definitionsversuchs erlaubt. Am Nachmittag habe ich ein Interview mit Shabazz Palaces geführt und obwohl wir nicht viel mehr getan haben, als über Befindlichkeiten im Angesicht von Musik zu sprechen, meint er, dass es eines der weniger schmerzhaften Interviews war.

nataliebrunner

  • Teil 2: Finanzkrisen-Reggae, mein erster Eissturm und meine ersten horizonterweiternden Politiker

Schenkelklopfend kommen wir überein, dass Albumreviews das Einzige sind, was sinnloser ist als Interviews und scheiden glücklich und amüsiert von einander. Man kann nicht drüber sprechen oder schreiben, deshalb ist es ja Musik. Oder wie würdet ihr die Größe des unten zu Hörenden und zu Sehenden jemanden erklären?