Erstellt am: 4. 11. 2012 - 13:25 Uhr
Vlog#10 The things I've seen
Als Lisa in "Margaret" erfährt, dass es bis zu sechs Jahre dauern kann, bis ein Fall vor Gericht kommt, schreit sie auf. Es wirkt wie ein zufälliger Insider-Witz, denn es würde ebenfalls bis zu sechs Jahren dauern, bis Kenneth Lonergans "Margaret" in die Kinos kommen würde. Nicht in viele Kinos und aus den meisten war er nach zwei Wochen auch wieder verschwunden. Und nun hat der Film bereits den Weg auf DVDs, Blu Rays und eben auch zur Viennale gefunden.
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Ein nicht enden wollender Schnitt-Prozess, finanzielle Schwierigkeiten und zwei Klagen begleiten "Margret" von 2005 bis 2011. Lonergans Version dauert über drei Stunden, die Variante von Martin Scorsese und Thelma Schoonmaker 149 Minuten, die nickte Lonergan ab und das war die Fassung, die in die wenigen Kinos kam.
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Gespenstisch
Und so ist schon die Titelsequenz von "Margaret" beinah gespenstisch, weil Anthony Minghella und Sidney Pollack als Produzenten auftauchen. Der amerikanische Präsident, von dem Lisa angibt, nicht mit ihm zufrieden zu sein, ist nicht Obama, sondern George W. Bush. Und was zunächst nach Starbesetzung aussieht, ist es eigentlich nicht. Denn 2005 war Anna Paquin kein Household-Name (mehr) und noch keine "True Blood"-Berühmtheit und Mark Ruffalo war noch weit davon entfernt, zum Hulk zu werden. Und so liegt irgendwie etwas Verschrobenes, Verstörendes über diesem Film, in dem auch Matt Damon noch aussieht wie ein Schulbub.
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Es ist ein Winken, das alles ändern wird, oder auch ein Cowboyhut. So einen sucht Lisa nämlich. Die 17-Jährige besucht eine Privatschule und lebt mit ihrem kleinen Bruder und ihrer schauspielernden Mutter in Manhattan. Einen Cowboyhut sucht sie, weil ihr Vater sie zu einem Aufenthalt auf einer Ranch einlädt. Genau so einen Hut sieht sie an einem Busfahrer (Mark Ruffalo), der gerade mit dem Bus die Station verlässt. Sie läuft neben dem Bus, winkt und hüpft, der Busfahrer winkt irritiert zurück, übersieht, dass die Ampel auf rot schaltet und überfährt eine Fußgängerin.
Selten wird das Kleine mit der großen Auswirkung so einfach, zurücknehmend, exzellent orchestriert und dennoch mit so großer Wucht inszeniert. Wenn Lisa weinend am Asphalt sitzt und die Fußgängerin in den Armen hält, so ist das eine Großstadt-Pietà, die einen bis zum Schluss des Films (und darüber hinaus) verfolgen wird.
Tod und Verfall
Die damals 23-jährige Paquin spielt grandios den Teenager und den Taumel zwischen Trauma, Wut, Schuldgefühl und teenage angst. Margaret gibt es im Film übrigens keine, der Titel bezieht sich auf ein Gedicht von Gerard Manley Hopkins, in dem es um den kindlichen Verlust der Unschuld geht, ein Kind erlebt das Verfärben der Blätter als Tod und Verfall. Für Lisa ist der Unfall auch ein Bruch mit der Welt, wie sie sie bisher kannte: Zwischen engagiertem Diskutieren über Shakespeare, hitzigen Debatten im Unterricht über amerikanischen Nationalismus und Vorurteile, Zankereien mit der Mutter. All das wird es auch nach dem Unfall geben, aber es ziehen sich Risse durch Lisas Welt. Die teenagerhafte Sprunghaftigkeit zwischen großem Drama und Gekichere findet sich in der Montage wieder. Von Tränen und Gebrüll zu großen Themen zum Joint Rauchen im Park ist es nur ein Schnitt.
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Post 9/11 New York
Lonergans Charakterstudie ist auch der Versuch, das Post-9/11-New York einzufangen. Ein tragisches Ereignis und seine zahlreichen Echos. "Margaret" versucht Bildungssystem, Familie, Kunst, ja sogar das Rechtssystem szenisch anzuordnen und zu verorten und hebt sich dabei beinah einen dramaturgischen Bruch. Mit einem ganz eigenen Rhythmus, der sich vom amerikanischen Mainstreamkino genauso unterscheidet wie vom Independent Film lässt er Lisa ihr moralisches Dilemma ausfechten. Die egozentrische Teenagerwelt platzt, Lisa schreit und weint, ist wütend und enttäuscht. Beinah brutal beendet der Schnitt oft Szenen an ihrem Höhepunkt. "Margaret" wirkt teilweise ungenau, unaufgeräumt, ausufernd und alles andere als wohlkomponiert. Und spiegelt so und konsequenterweise das Gefühlsleben all seiner Charaktere.
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Zickzack
Als ich "Margaret" im Programmheft der Viennale finde, frag ich mich kurz, ob man wirklich einen Film zeigen muss, den es schon auf DVD gibt. Aber ja, natürlich muss man. Hier kann ein Filmfestival zumindest ein bisschen nachholen, was die Rechtsstreitereien und Schnitt-Probleme großteils verhindert haben, "Margaret" auf der Leinwand zu sehen. Man braucht Geduld, aber man wird merken, wie Krusten im eigenen Kopf wegbrechen, was Erzählhaltung und -fluss angeht. "Margaret" fließt im Zickzack, es ist ein verhatschter, verwunschener Trauer-Wut-Unverständnis-Walzer, der einem als Zuseher beständig auf die Füße steigt.
Der rote Faden
Und um wieder Mal zum roten Faden des Viennale-Tagebuchs oder eigentlich all dieser Texte hier zu kommen, dass Film soviel mehr ist, als nur der Film: "Margaret" ist auch die Geschichte von enthusiastischen Filmrkitikern, die via Online Petition und Twitter-Kampagne sich für "Margaret" einsetzten.