Erstellt am: 29. 10. 2012 - 10:34 Uhr
Vlog#4 Gebrochene Herzen und Nasen
Nach 10 Minuten schaut der Herr neben mir zum ersten Mal auf die Uhr, dann verkürzt sich der Rhythmus eine Zeitlang auf den Zeitcheck im 5-Minuten-Takt. Vielleicht misstraut er der Zeitumstellung, aber nein, auch dem Klopfen mit den Fingern auf der Wasserflasche entnehme ich, dass er sich langweilt. Dabei kann "The Deep Blue Sea" einen hypnotischen Sog entwickeln, wenn man sich dem Rhythmus des Films anpasst, das Atmen verlangsamt. Terence Davis Adaption eines Theaterstücks ist ein Arrangement von Verstand und Gefühl.
Artificial Eye
Rachel Weisz spielt Hester, die Ehefrau eines älteren Richters im Nachkriegslondon, die sich in einen jungen RAF-Piloten (Tom Hiddelston, der Mann, der glaub ich mindestens die Hälfte aller tumblr-Inhalte bildet) verliebt. Davis reduziert aufs Allernotwendigste, er lässt Hester zurückblicken, er komprimiert ihre Erinnerungen. Statt langer Kennenlernszenen, gibt es zwei Blicke zwischen Hester und Freddy und nur einen gesprochenen Satz; in einer anderen Szene einen Kuss und ein "I love you so much". Aus der Verknappung einen Sog entwickeln, das beherrscht "The Deep Blue Sea", obwohl sich Figuren und Kamera so beherrscht aufführen.
Artificial Eye
Nur einmal löst sich die Kamera, geht in die Vogelperspektive und macht eine Fahrt im Kreis über Freddy und Hester, die nackt und umschlungen im Bett liegen. Schon allein der neue Blickwinkel und die Kreisbewegung deuten die Wichtigkeit der Szene an. Mit dem jungen Piloten entdeckt Hester Leidenschaft und Sex, das Wort wird während des Films aber niemand in den Mund nehmen. Als physical love wird es manchmal umschrieben, doch wie des Richters beinahe viktorianisch anmutende Mutter meint: Beware of passion, it always leads to something ugly.
Artificial Eye
- Viennale-Tagebuch fm4.orf.at/viennale
- viennale.orf.at
Außerhalb der Bettlaken gestaltet sich die Beziehung mit Freddy aber schwierig, der ehemalige Pilot scheint seit Kriegsende nicht wirklich glücklich. Ausgerechnet ihn, der von sich selbst sagt "I hate to be tangled up in other people's emotions", liebt Hester kopflos und aus tiefstem Herzen. Und das auch noch in einer Umgebung, die stetige Zurückhaltung verlangt. In malerischen Bildern, deren Ränder manchmal leicht verschwommen sind, zieht einen "The Deep Blue Sea" in seinen melancholischen Bann über die Spielarten der Liebe, Leidenschaft und Selbstzerstörung. Schuldzuweisungen gibt es keine, ebenso keine Hysterie. Das Licht illuminiert Räume hier teilweise wie bei Douglas Sirk, der hätte an dem Thema und der Personenkonstellation wohl auch Gefallen gefunden.
LD Entertainment
Killer Joe
Der Titel "The Deep Blue Sea" bezieht sich auf ein Sprichwort "Between the devil and the deep blue sea" und bezeichnet eine Situation, bei der man zwei Wahlmöglichkeiten hat, die beide schrecklich sind. Genauso gehts auch Chris (Emile Hirsch) in William Friedkins "Killer Joe". Chris überlegt, seine grässliche Mutter umbringen zu lassen, um an deren Geld zu kommen, oder aber er wird wegen Schulden wohl früher oder später selbst umgebracht. Im texanischen Trailerpark, wo Hunde T-Bone heißen und einem Stiefmütter unten ohne die Tür öffnen siedelt Friedkin seine Trashballade an. Das ist wohl auch die - übertriebene und durchtriebene Variante von Texas, die "Somebody up there likes me"-Regisseur Bob Byington am Vortag beschrieben hat. Das Texas, das die liberale Insel der Seligen namens Austin umgibt. Hier, zwischen Rednecks und Schlägertypen lebt Chris, sein Vater Ansel (Thomas Haden Church in einem dreckigen Onesie steckend), Stiefmutter (Gina Gershon) und Chris' Schwester Dottie (Juno Temple). Die Smiths dysfunktional zu nennen, wär eine Beleidung für alle anderen dysfunktionalen Familien.
sundance
Happy MMAD, genau, Matthew McConaughey Appreciation Day! Ein Trailerama, das alle Nörgler von der potentiellen Suprigkeit des Schauspielers überzeugen will.
Diabolischer McConaughey
Ein Trumpf von "Killer Joe" heißt Matthew McConaughey, der setzt seinen Gegenschlag zu seiner Sunnyboy-Karriere fort, sich einen Cowboyhut und eine Sonnenbrille auf und wird zu Joe Cooper. Korrupter Cop und Auftragskiller in praktischer Personalunion. McConaughey hält sich zunächst zurück, um in der finalen Szene dann dem diabolischen Wahnsinn völlig freien Lauf zu lassen. Der zweite Trumpf ist die unglaubliche Juno Temple als Dottie. Auf ihrer Zimmertür steht in grünen Glitzerbuchstaben "Dream" und das ist das einzige, was einem hier zu tun übrig bleibt. Dottie ist ein verwirrtes und unschuldiges Wesen, das man aber nicht unterschätzen sollte. Sie ist eine Trailertrash-Elfe, irgendwo zwischen einer Tennessee Williams Figur und Juliette Lewis in "Kalifornia".
LD Entertainment
Ebenjene Dottie verlang Joe als Entgegenkommen, als Chris ihm offenbart, dass man ihn erst zahlen kann, wenn er den Mord an der Mutter begangen hat. "Killer Joe" wird zu einer brutalen Fahrt durch den amoralischen Gatsch und Staub. Gier, Gewalt, Betrug, Sex und Demütigung, angesiedelt in Räumen, die ebenso ramponiert sind, wie die Figuren darin. Ein überhöhtes, exzellent gefilmtes Sex&Crime-Schundheftl, ein Triumph für Regisseur William Friedkin, der in den letzten beiden Jahrzehnten mit seinen Filmen nicht zu begeistern wusste. Bleibt nur noch die Frage, ob die panierte Hühnerkeulen-Konsumation nach der Zweckentfremdung im finalen Akt merklich zurückgehen wird. Und ist es eigentlich noch noir, wenn's schon blutgetränkt ist? Wäre bloß William Friedkin für ein Publikumsgespräch dagewesen. (Irgendwie sind der Viennale dieses Jahr ja ohnehin die Stargäste abhanden (Herzog! Huppert!) gekommen, ich würde aber jederzeit sagen wir mal einen Kaiser Chief samt DJ-Set im Festivalzentrum gegen Friedkin eintauschen).
Weiter gehts...
heute mit "Exit Elena" und "Beul-la-in-deu". Und einem weiteren Versuch, Viennale und Ernährung vielleicht doch unter einen Hut zu bekommen. Muss doch noch mehr Fritz Lang einplanen, denn der Filmmuseums-Käsetoast kann Leben retten.