Erstellt am: 11. 10. 2012 - 11:56 Uhr
Gangster und Verführer
Wimperntusche sei wichtig, erklärt Michael Caine den Studenten in einem Schauspielworkshop. Denn wenn man blond ist wie er und die Wimpern ungetuscht lässt, dann könne man genauso gut in einem Hörspiel mitwirken. Augen seien das wichtigste Werkzeug eines Filmschauspielers überhaupt. Von Beginn seiner Karriere an begegnet Caine der Schauspielerei pragmatisch. Weniger als wäre das eine Begabung, mehr ein Werkzeugkasten, mit dem er eben umzugehen wüsste. Wenn er über Schauspielerei spricht, dann über Bodenmarkierungen, Raum, Blickwinkel und die Wichtigkeit des Nicht-in-die-Kamera-Blinzelns.
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- Play it dirty, play it class: Michael Caine Tribute bei der Viennale 2012
- orf.at/viennale
- fm4.orf.at/viennale
Tränen und Stanislawski
Schauspielunterricht hat er nie genommen, seine wichtigste Lektion stammt nicht etwas von Lee Strasberg, sondern von John Wayne: Talk low, talk slow, and don't say too much. Method Acting vermutet man nicht in der Caine'schen Werkzeugkiste und doch greift er manchmal zu Stanislawski. Wenn ein Filmskript Tränen verlangt, dann würde er an ein trauriges Ereignis in seinem Leben denken. Immer an das gleiche, auch das zeugt von Pragmatismus. Was diese Begebenheit sei, weiß nicht mal seine Frau. Und Caines Tränen sind wiederum mein Pawlowscher Reflex, ebenfalls zu weinen. Am Ende von "The Dark Knight Rises", ein Film, den S. und ich im Glauben betreten haben, endlich mal unverheult aus dem Kino zu kommen, gibt es eine Nahaufnahme von Alfred, dem Butler Bruce Waynes, den Caine bereits zum dritten Mal spielt. Vielleicht fließen die Tränen noch nicht mal, sondern seine Augen glänzen nur feucht. Oh boy, schnieft S. neben mir, wir haben die Rechnung ohne Michael Caine gemacht.
warner
Mit Cockney zu "Zulu"
Mit solch einer Leinwandpräsenz und Wirkung rechnet der 31-jährige Michael Caine nicht, als er nach zahlreichen Bühnen und Fernsehrollen bei Regisseur Cy Endfiled für eine Rolle in "Zulu" vorspricht. Und weil die Filmgeschichte ein großes Herz für Paradoxa hat, sagt man dem aus einer Arbeiterfamilie stammenden und Cockney sprechenden Caine, er würde nicht Cockney genug ausschauen, und gibt ihm die Rolle eines Generals aus der Oberschicht. Die Filmgeschichte liebt eben auch, wenn der Triumph aus der Niederschmetterung oder der Fehleinschätzung erwächst. Wie ein Studioboss über Fred Astaire notierte, er würde nicht schauspielern und ein wenig tanzen können, so hält man eben Michael Caine im Jahr 1964 für nicht Cockney genug.
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Working class Held
Zu der Zeit gilt auch der Konsens, dass der Cockney Akzent eigentlich auch nichts auf der Leinwand verloren habe. Eine Generation vor Caine sahen britische Schauspieler aus wie Laurence Olivier und sprachen Bühnen-Englisch. Filme drehten sich um die Mittel- und Oberschicht, erst mit der British New Wave ab 1955 öffnet sich das Kino und beschäftigt sich mit den harschen Realitäten der Arbeiterklasse. Michael Caine aber erobert die Leinwand mit Filmen zu einer Zeit, die man als Swinging London labeln wird, er wird der britische Leinwandheld, der die Cockney-Färbung nie ablegen wird und der - auf und abseits der Leinwand - zeigen wird, dass das britische Klassensystem überwunden werden kann. Er wird ein working class hero, ohne sich ausschließlich über seine Herkunft zu definieren. Er bringt Cockney auf die Leinwand, nach Hollywood und ins Studio 54. I'm the original bourgeois nightmare - a Cockney with intelligence and a million dollars, so Caine.
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Gangster und Verführer
Als Filou und Verführer verwickelt er sich in "Alfie" in zahlreiche Affären und entwirft in "The Ipcress File" ein Gegenmodell zu James Bond. Hier wird aus dem Kalten Krieg ein Spionagethriller, nicht wie bei Bond glamouröses Eskapismus-Kino. Harry Palmer kann sich den ausschweifenden 007-Lebensstil nicht leisten, er ist ein Spion, der gerne kocht und eine Brille trägt. Aus Hollywood kommt ein Telegramm, das gegen beides Einspruch erhebt: "Dump Caine’s spectacles and make the girl cook the meal - he is coming across as a homosexual."
Caines verkörpert eine neue und einnehmenden Mischung aus working class hero, Bestandteil des Swinging London und der glamourösen Filmwelt. Keiner trägt Double Breaster, Hornbrillen oder Trenchcoats so wie er. Der als Maurice Joseph Micklewhite geborene Brite wird zur Stilikone, nun, zumindest bis die 1980er Jahre anbrechen, dann trifft Caine - inzwischen in Hollywood angelangt - ein paar nicht so stilsichere Entscheidungen, seine Anzüge, Haartracht und Rollen betreffend. Doch auch in dieser Beziehung zeigt sich Caine pragmatisch. First of all, I choose the great roles, and if none of these come, I choose the mediocre ones, and if they don't come, I choose the ones that pay the rent. Und "Jaws 4" hat nicht nur die Miete, sondern gleich ein ganzes Haus bezahlt, gesehen hat Caine den Film nie, wie er selbst sagt.
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Zurückhaltung und Reduktion
Er erschafft eine Leinwand- und öffentliche Persona, die vor Professionalität und Charisma strotzt. Seine Filme kommen aus allen Genre-Himmelsrichtungen, doch sein Spiel ist stets eines mit Zurückhaltung, ein Gestikulieren in einem millimetergenauen Raster. Michael Caine prägt nicht nur einen Schauspielstil abseits des großen Gestus der 1950er-Melodramen und fernab von Method Acting, er ist in den 1960er Jahren auch ein Schauspieler, der mit dem Sauf- und Rüpel-Image von Kollegen wie Richard Burton oder Richard Harris nichts gemein hat.
Großen Einfluss auf die Darstellung von Gangstern hat seine Darstellung des Jack Carter in "Get Carter" im Jahr 1971. “One of the reasons I wanted to make 'Get Carter' was my background. In English movies, gangsters were either stupid or funny. I wanted to show that they’re neither. Gangsters are not stupid, and they’re certainly not very funny.”, erklärt Caine hier. Carter trägt zu Pistole und abgesägter Schrotflinte die schnittigsten Anzüge, eine teure Uhr, Manschettenknöpfe so groß wie Kinderköpfe und einen Trenchcoat, der bei stilbewussten jungen Herren ebenso begehrt ist wie Harry Palmers Brille aus "The Ipcress File".
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Von Klasse und Klassen
Als eigenen Lieblingsfilm gibt Caine kurioserweise weder die von der Popkultur in fester Umarmung gehaltenen "Alfie" noch "Get Carter" an, sondern "Educating Rita". Ein Film aus dem Jahr 1983, der Bernhard Shaws "Pygmalion"-Thema variiert. Lange bezeichnete Caine dies als seinen letzten guten Film, "before I mentally retired". Das war natürlich bevor er einen Oscar für seine Rolle in "The Cider House Rules" erhielt oder vor seinem Nebenrollentriumph in Christopher Nolans hochgeschätztem Blockbusterkino.
Dass er aus dieser Fülle an Filmen nun ausgerechnet "Educating Rita" nennt, beweist nur wieder, dass man nicht Michael Caine sagen kann, ohne class zu sagen. Im Film will Rita, eine Friseurin, einen Schulabschluss nachholen und findet sich im bald zwischen den Stühlen ihres - klischeehaft bildungsfeindlichen - Arbeiterklassen-Umfelds und der neuen Welt der Geisteswissenschaften. Caine spielt einen Professor mit Bart und Alkoholproblem, der durch Ritas Enthusiasmus aus der Krise finden versucht. Die gesellschaftliche Klasse wird mit Hilfe der Klasse im schulbetrieblichen Sinne überwunden.
viennale
Am 16. Oktober gibt es eine Vorschau aufs Viennaleprogramm mit Empfehlungen und ab 26.10 dann täglich das Viennale-Tagebuch. Ich freu mich auf euch.
Viennale Tribut für Michael Caine
Die Viennale zollt dem großen Michael Caine mit einer kleinen Filmschau Tribut . Von "Get Carter" über "Dirty Rotten Scondrels" zu "The Quiet American". Schön wär natürlich ein "Sleuth"-Doublefeature gewesen, Caine spielt im Original und im Remake mit oder auch "Anybody There", der keinen österreichischen Starttermin hatte. Wer Zeit hat, sollte die Caine-Schau dann zuhause mit "Pulp", "Without A Clue", "The Italian Job" fortsetzen und mit "Water" und "Jaws 4: Revenge" auch dem Trash-Abschnitt in Caines Filmografie eine Chance geben. Nieder mit dem Klassensystem, auch in der Filmrezeption.