Erstellt am: 15. 9. 2012 - 11:23 Uhr
Kunst muss weh tun
- Der steirische herbst auf fm4.ORF.at
Am Freitag, den 21. September startet der steirische herbst 2012. Das Festival für neue Kunst wird bis 14. Oktober ganz Graz auf den Kopf stellen, denn wie immer ist das Programm übervoll. So voll, dass ich mich an dieser Stelle allein dem Kick-off-Projekt in der ersten Woche widme. Weitere herbstliche Empfehlungen gibt Kollegin Maria Motter ab.
Steirischer Herbst
Worum geht's?
Truth is concrete
- 21.-28. September im 24/7 Marathon-Camp am Opernring 5-7 in Graz
- Hier das Programm mit Zusatzinfos
- Hier das Programm in Timeline-Optik
Unter dem Titel "Truth is concrete" sind mehr als 200 KünstlerInnen, PolitaktivistInnen und WissenschaftlerInnen eingeladen, die in einem eigens aufgebauten Marathon-Camp am Grazer Opernring eine Woche lang rund um die Uhr Workshops und Vorträge halten, diskutieren, performen, Konzerte spielen und Filme zeigen werden.
In jeder einzelnen dieser Veranstaltungen sollen "politische Strategien in der Kunst und künstlerische Strategien in der Politik" aufgespürt, hinterfragt oder angewendet werden. Man geht also der Frage nach, ob und wie Kunst Probleme lösen kann, die Politik und Gesellschaft verursacht und/oder ignoriert haben.
Wer kommt?
- Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei!
Wer sich jetzt vor trockenen Metaebenediskursen fürchtet, wird durch die exquisite Gästeliste hoffentlich eines Besseren belehrt. Im Folgenden möchte ich euch ein paar der Festival-TeilnehmerInnen besonders ans Herz legen, weil sie uns vormachen, wie konkretes Handeln aussehen kann.
Freitag, 21. September
Zum Auftakt sind gleich zwei Granden des Politaktivismus zu Gast, die sich durch höchst unkonventionelle und durchaus lustvolle Maßnahmen ausgezeichnet haben. Zum einen Antanas Mockus, Mathematiker, Philosoph und Ex-Bürgermeister von Bogotá, Kolumbien, zum zweiten Srđa Popović, serbischer Widerstandskämpfer, der maßgeblich am Sturz von Slobodan Milošević beteiligt war.
Mockus ließ den Straßenverkehr während seiner Amtsperioden von Pantomimen regeln und Waffen gegen Essensmarken tauschen.
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Popović bildet in seinem Centre for Applied Nonviolent Action and Strategies "Laughtivisten" für den arabischen Raum aus. Humorvoller Protest sei wirkungsvoller als jede Waffe, sagt er: "If you mock them, it hurts."
Samstag, 22. September
Ob sich Oben-ohne-Demos tatsächlich als hilfreiches Mittel gegen sexuelle Ausbeutung eignen, ist umstritten. Am Samstag kann man die Urheberinnen dieser Protestform persönlich dazu befragen - die feministische Agitprop-Gruppe Femen aus der Ukraine kommt nach Graz.
Nicht weniger kämpferisch gibt sich Marina Naprushkina aus Weißrussland, die mit ihrem Büro für Anti-Propaganda, Videos, Animationen, Fotografien und Comics gegen das autoritäre Regime von Präsident Alexander Lukaschenko antritt.
Marina Naprushkina
Sonntag, 23. September
- Von 21. bis 28. September bringen wir täglich Portraits der Festival-TeilnehmerInnen.
- Am 23. September gibt es ein Sumpf-Spezial aus Graz.
Ich könnte nun vor der bevorstehenden "Shopocalypse" warnen, mit deren Beschwörung Reverend Billy & the Church of Stop Shopping versuchen, kaufwütige US-Amerikaner zu missionieren, oder mit der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe der Frage nach dem demokratischen Paradox nachgehen.
Mein spezieller Tipp für Sonntag gilt aber dem Pansy Project, das weder lauten Gospel-Aktionismus noch akademische Publikationen braucht, um gesellschaftliche Missstände sichtbar zu machen. Eine kleine zarte Geste reicht: der britische Künstler Paul Harfleet pflanzt Stiefmütterchen an Orten, wo Übergriffe auf Homosexuelle stattgefunden haben.
Paul Harfleet
Montag, 24. September
Mit Laila Soliman aus Kairo holt der steirische herbst den Arabischen Frühling nach Graz. "Jung, unverschleiert, gebildet und nicht religiös", entspricht die Theatermacherin europäischen Vorstellungen einer Revolutionärin perfekt. Sie selbst sieht sich dagegen als eine von 86 Millionen. Ihr dokumentarisches Theater, dessen Stücke Titel tragen wie "No time for art" oder "Lessons in revolting" stehen als Kontrapunkt zur einseitigen medialen Berichterstattung rund um die Ereignisse am Tahrir-Platz.
Wer neben all der inhaltlichen Auseinandersetzungen die Körperpflege nicht vernachlässigen will, dem sei The Haircut before The Party empfohlen. Der mobile Frisiersalon richtet sich während des steirischen herbsts in der Klosterwiesgasse 5 ein, und bietet Gratis-Haarschnitte und vertiefende Konversation.
Dienstag, 25. September
James Leadbitter ist das britische Ein-Mann-Kolletiv The Vacuum Cleaner
Sein Kunstaktivismus bewegt sich oft nah an der Grenze zur Illegalität. So hat er z.B. der Metropolitan Police ein neues Image verpasst, indem er die Silbe "PO-" auf ihren Wachen abklebte, sodass nur mehr "LICE", also Läuse, darauf zu lesen war. Außerdem hat er die syrische Botschaft in London einem Luftangriff Tausender Papierflieger ausgesetzt, oder eine spezielle Konsumentenschutz-Kampagne für eine internationale Kaffeehauskette lanciert.
James Leadbitter / The Vacuum Cleaner
Pussy Riot ist von ehemaligen Voina-Mitgliedern gegründet worden. Hier mehr zum Verhältnis der Kunstgruppen.
Montag Nacht wird es auch eine Debatte zum Thema politischer Widerstand in Russland geben. Das anarchistische Kunstkollektiv Voina (Russisch für Krieg) wendete sich schon mit seinen Straßenprotestaktionen gegen Korruption und Machtmissbrauch durch den Kreml, als von Pussy Riot noch keine Rede war. Gefängnis und Untertauchen sind quasi Risiko und Lohn ihrer Kunst. Gegen Chefideologe Oleg Vorotnikov liegt gar ein internationaler Haftbefehl vor. Ob er selbst nach Graz kommt, ist fraglich, Voina-Mitglieder sind jedenfalls angekündigt.
Voina
Mittwoch, 26. September
The Kominas sind eine Punkrock-Band aus den USA. Fun-Da-Mental aus Großbritannien machen laut Eigendefinition "multi-ethnic-hip-hop-ethno-techno-world-fusion-music". Beiden gemeinsam ist ihr offenes Bekenntnis zum Islam, der auch in ihrer Musik dominant ist. Mit Titeln wie "Suicide Bomb The Gap" (The Kominas) oder Alben wie "All is War" (Fun-Da-Mental) und politisch höchst inkorrekten Lyrics prangern sie Stereotype, Rassismus und Diskriminierung an. Mittwoch Nacht nehmen beide Bands an einem Talk teil, anschließend und am Tag danach gibt es Konzerte.
Donnerstag, 27. September
"Kunst muss weh tun, anklagen, provozieren und reizen", ist das Motto des Zentrums für politische Schönheit aus Deutschland. Zuletzt haben die KunstaktivistInnen 25.000 Euro Kopfgeld auf eine Waffenhändlerfamilie ausgesetzt. Das Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei Wegmann schickt 270 High-Tech-Panzer nach Saudi-Arabien, die deutsche Regierung hat den Deal durchgewunken.
http://www.kmweg.de
Als moralischer Kontrast dazu spielt am selben Tag Moddi, ein Singer-Songwriter aus Norwegen, der sein Debütalbum "Floriography" genannt hat, und auf 100.000 Euro Förderung von einer Ölfirma verzichtet hat.
Freitag, 28.9.
Die Berliner Künstlergruppe The eclectic electric collective setzt riesige aufblasbare Objekte bei Demonstrationen für mehr visuelle Aufmerksamkeit und zur Deeskalation ein. Dinge, die im Rohzustand in eine unauffällige Sporttasche passen, werden auch nicht so schnell konfisziert.
eclectic electric collective
Jeden Donnerstag werden in Frankreich die neuen Immobilienanzeigen veröffentlicht. Für viele Wohnungssuchende ein schwarzer Tag, weil die Mieten von Mal zu Mal teurer werden, während die Nachfrage nach leistbarem Wohnraum weiterhin steigt. Jeudi Noir, also "Schwarzer Donnerstag" heißt auch eine AktivistInnengruppe, die sich in Paris und Umgebung für soziale Wohnpolitik einsetzt, und schon mal Besichtigungstermine von überteuerten Apartments zum Schauplatz unangekündigter Guerrilla-Parties macht.
Wie gesagt, nächsten Freitag geht's los. Ich freu' mich wahnsinnig drauf!