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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

15. 9. 2012 - 11:23

steirischer herbst: Schön konkret bleiben

Ein neues Image für europäische Muslime, viel nackte Haut und Ponys - der steirische herbst macht sich drei Wochen lang auf die Suche nach dem Konkreten.

"Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert", stand auf dem Plakat, das nahezu haushoch in prominenter Lage im Sommer in Berlin hing und auf den steirischen herbst verwies. Nun ist die Aussage der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel an nahezu jedem Platz in Graz auf einer großen Plakatwand zu lesen: "Re-Branding European Muslims" ist ein internationales PR-Projekt der israelischen Performance-Gruppe Public Movement und der Start erfolgt beim steirischen herbst.

"Das ist natürlich kein neutrales Terrain, auf dem wir uns bewegen", sagt Veronica Kaup-Hasler, die Intendantin des steirischen herbst. Vor 100 Jahren war Österreich das erste europäische Land, das den Islam als offizielle Religion anerkannte. "Welche Bilder gehen durch die Köpfe? Und was würde das bedeuten, diese Images neu zu branden?", fragt Kaup-Hasler. Mit ihrem Kunstprojekt "Re-Branding Muslims" experimentiert Public Movement damit, die öffentliche Meinung zu verändern.

Und weil so eine Kampagne Geld kostet, findet beim steirischen herbst eine Benefiz-Gala statt. Drei Werbeagenturen - Demner, Merlicek & Bergmann aus Wien, die Istanbuler Icerikstratijeri sowie Metahaven aus Amsterdam - werden ihre Vorschläge für die Kampagne präsentieren.
Denn der steirische herbst sucht dieses Jahr nach dem Konkreten: Es geht intensiv um künstlerische Strategien in der Politik und um politische Stragegien in der Kunst. "Die Wahrheit ist konkret" ist das Leitmotiv.

Riesen Plakat der Kunstkampagne "Rebranding European Muslims" an einer Berliner Hausfassade

Radio FM4 / Maria Motter

Mehr Handlungsspielraum

Welchen Spielraum Kunst aufmachen und konkrete Handlungen ermöglichen kann, werden die Performances und Theaterstücke des diesjährigen herbst unter Beweis stellen. Das russische teatr.doc erarbeitet sich seine Produktionen mit Dokumenten, Interviews und Recherchen zu gegenwärtigen Vorfällen. In "1 hour 18 minutes" (29. und 30. September, 1. Oktober) zeigen die Moskauer auf der Bühne etwas, das es in Realität nicht gibt: Eine Gerichtsverhandlung, die nicht stattgefunden hat, klagt an und erinnert an den Tod des Anwalts Sergey Magnitskiy, der 2009 nach Folter und Missbrauch in einjähriger Untersuchungshaft starb.
Durch die Arbeit des teatr.doc wurde in russischen Medien über Fälle berichtet, die sonst nicht thematisiert worden wären.

Auch der Tod eines jungen Libanesen in der performativen Installation "33 rounds and few seconds" kann nicht allein im privaten Bereich verankert betrachtet werden. Die Theatermacherin Lina Saneh und der Dramatiker, Regisseur und bildende Künstlers Rabih Mroué berichten von einem Leben und zugleich von ihrem Land Libanon, das in einer seltsamen Lethargie zu verharren scheint (28., 29. und 30. September).

Einen radikalen und zugleich durchaus humorvollen Zugang zur Gegenwart legt Guillermo Gómez-Peña in seine Arbeit. Der Mann wird als lateinamerikanischer Theater- und Performancemagier gehandelt, und er macht sich in "The Insurrected Body" mit La Pocha Nostra daran, den Kapitalismus zu exorzieren. "Was ist schon extrem, wenn alles extrem ist?", lautet eine Frage und jede Vorstellung wird anders verlaufen, da dem Publikum offen steht, sich zu beteiligen. Don't be afraid, La Pocha Nostra haben selbst ausreichend Unterhaltung vorbereitet - inklusive angekündigtem Roboter-Barock und Cyborg-Kitsch (11., 12. und 13. Oktober).
Mit Schamanismus, Ritualen und Performances sind La Pocha Nostra seit zwanzig Jahren vertraut, die Profis geben in Graz ihr Wissen auch in einem Workshop weiter (5. bis 9. Oktober, Anmeldung bis 31.7. erforderlich).

Alles ablegen

Müssen sich Frauen denn auch noch dafür ausziehen, sich Gehör zu verschaffen? Die ukrainischen Aktivistinnen Femen könnte man das anlässlich ihres Besuchs beim steirischen herbst im 24/7 marathon camp fragen. Doch auch andere Frauen wären gute Ansprechpartner.

Das letzte Mal, als sich Doris Uhlich nackig, ganz nackig zeigte, zog sie sich vor dem Publikum im Theater im Bahnhof aus und sprach währenddessen zu den ZuschauerInnen. Ein Kind in einer Reihe fragte, ob es sich nun auch ausziehen dürfe. Soviel Witz und Lässigkeit ist nicht selbstverständlich, auf "Come Back" der Wiener Choreografin Doris Uhlich darf man sich freuen: Fünf ehemalige BallettänzerInnen fragen sich, was die strenge Körpertechnik mit ihnen angestellt hat. Dabei geht es um viel mehr: um Körper- und Gesellschaftsbilder.

Szenenbild aus "Come back" von Doris Uhlich: fünf ehemalige BalletttänzerInnen mit Rücken zur Kamera

Andrea Salzmann

New Yorker Theater- und Neo-Burlesque-Unterground kann man sich in der "Untitled Feminist Show" von Young Jean Lee's Theater Company ansehen und sich hoffentlich am Ende über eigene Vorurteile amüsieren. Denn die Regisseurin Young Jean Lee stellt Klischees wie kulturelle Identitäten in Frage. Und ununterbrochene Nacktheit der Künstlerinnen kann schon mal irritieren - das ist ja Absicht (11., 12., 13. Oktober).

Nackte Frauen in Tanzposen, im Bild schwarze Balken über ihren Geschlechtsteilen

Blaine Davis

Barbusig protestieren Femen, die Mitwirkenden in der "Untitled Feminist Show" sind ununterbrochen nackt

Ton Steine Erben

Wo bleibt die Musik? Ganz genau: Haigh-Ashbury hingegen haben sich schon mal dick eingepackt und für den herbst schick gemacht. Die Band spielt ein Live-Konzert (13. Oktober) ebenso wie Die Türen (12. Oktober) und der norwegische Singer-Songwriter Moddi (der spielt gleich zwei: Einmal "Protest Covered" im 24/7 marathon camp und eins am 29. Oktober im "Wohnzimmer" des Festivalzentrums).

Die Band Haight-Ashbury lehnt in warmen Kleidern mit den Rücken an einer Hauswand

Haight-Ashbury

Das musikprotokoll trägt den Untertitel "eine enharmonische Verwechslung" und wird kuratiert von Susanne Niedermayr und Christian Scheib. Sie lassen vorab wissen, dass die Wahrheit des Klangs nicht absolut ist. Es gibt einen Live-Webcast, und das musikprotokoll will an dieser Stelle noch ausführlich beleuchtet werden.

Und mach eine/r so: Ponys!

Die Ausstellungen im steirischen herbst sind so zahlreich, da will man sich erst vor Ort einen genauen Überblick verschaffen. Vorausgeschickt sei noch eine kleine, persönliche Empfehlung: Die Autorin Gerhild Steinbuch und der Autor und Regisseur Jörg Albrecht laden zu einer Tour durch Ponyville. My little ponies haben es also ins Programm des Festivals für neue Kunst geschafft! Freundschaft ist magisch und diese anstehende Lesung am 11. Oktober beglückt mich schon jetzt.