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Christiane Rösinger Berlin

Ist Musikerin (Lassie Singers, Britta) und Autorin. Sie schreibt aus dem Leben der Lo-Fi Boheme.

2. 9. 2012 - 17:10

775 Jahre Berlin

In dieser Woche beginnen in Berlin die Feierlichkeiten zum großen Jubiläum.

Im Jahre 1237 wurde Berlin in einer Urkunde zum ersten Mal erwähnt. Jetzt lässt aber, pünktlich zum Jubiläum, ein halbes Schwein an der bisherigen Geschichtsschreibung Zweifel aufkommen. Denn Bauarbeiter stießen in Berlins Mitte auf Schweineknochen, einen verkohlten Holzbalken und ein Hausfundament. Archäologen sind sich sicher: Die Überreste stammen aus dem Jahr 1174. Sie sind also 838 Jahre alt und damit das Älteste, was in Berlin bislang gefunden wurde.

Aus dem Leben der Lo-Fi-Boheme
Geschichten aus Berlin von Christiane Rösinger, jeden Samstag in FM4 Connected (13-17h)

Das diesjährige Jubiläum geht bis jetzt recht leise und bescheiden von Statten. Im Oktober soll es einen Festgottesdienst geben, dann werden die Feuerpoeten und Straßentheatermacher die Stadt heimsuchen, aber das ist alles kein Vergleich zu den pompösen Feierlichkeiten zum 750-Jahr-Jubiläum vor 25 Jahren, als sich, je nach Sichtweise Westberlin und Berlin (Hauptstadt der DDR) oder Ostberlin und Berlin (West) zur doppelten 750 Jahrfeier rüsteten und ein Wettbewerb um die historische und politische Legitimität ausbrach. Die Feierkonkurrenz dehnte das Programm in beiden Stadthälften ins Absurde aus, es waren nur noch zwei Jahre bis zum Mauerfall, aber Ost- und Westberlin mussten allen Pomp und Bombast aufbieten, um das andere Berlin zu übertreffen.

Berlin bei der 750 Jahr Feier: Haus mit Friedenstaube und das Motto "Stadt des Friedens"

Christiane Rösinger

So feierte Berlin (Hauptstadt der DDR) vor 25 Jahren: Mit der Renovierung des Nikolai-Viertels und dem Slogan: Berlin Stadt des Friedens

Das führte damals zu großem Unmut in der Bevölkerung. In der DDR schrieb man aus Protest "821 Jahre Leipzig" auf die Trabbis, im Westen regten sich die Bürger über eingemauerte Cadillacs am "Skulpturenboulevard" Kudamm auf. Die pompösen Feiern wurden auch im Westen an den Bewohnern vorbei geplant und durchgezogen. Gleichzeitig kürzte man die Sozialleistungen, dieser Unmut und der Hass auf den Berliner Senat führte dann zu den ersten großen Straßenkämpfen am 1. Mai 1987.

Etwa zur gleichen Zeit trieb die Stasi Ost-Berliner Jugendliche auseinander, die zur Mauer gekommen waren um David Bowie am Reichstag zu hören - sehen konnten sie ihn ja wegen mangelnder Reisefreiheit nach Westberlin nicht. 2012 feiern nun beide Stadthälften gemeinsam und das auf eine ganz sympathische Art.

Bei der zentralen Ausstellung auf dem Schloßplatz hat man sich vorgenommen, Stadtgeschichte als Migrationsgeschichte zu schreiben. Berlin wird als Stadt dargestellt, die ihre Anziehungskraft schon seit dem Mittelalter den vielen Einwanderern verdankt. Künstler, Händler, Geistliche, Flüchtlinge und Arbeitssuchende aus allen Gegenden der Welt wählten Berlin als neue Bleibe. Hugenotten, Böhmen, osteuropäische Juden, Arbeiter aus Südeuropa, Kriegsflüchtlinge, Werkvertragsarbeitnehmer, Aussiedler und nach dem Mauerfall vermehrt junge Künstler zog und zieht es nach Berlin.

Bunte Stecknadeln, begehbare Landkarte bei der 775 Jahr Feier in berlin

Christiane Rösinger

Heute sieht sich Berlin als City of Diversity. Auch sie bekommen ihren Platz auf dem begehbaren Stadtplan: Die Touristen auf der Admiralbrücke beim begehbaren Stadtplan.

Auf einem fußballfeldgroßen, begehbaren Stadtplan mit drei Meter hohen Stecknadeln als Orientierungspunkten lässt sich die Geschichte Berlins als Leistung ihrer Zuwanderer erkunden. Auf den Schautafeln kann man sehen, wo sich in Berlin Migranten niederliessen. Dabei sind so unterschiedliche Orte wie der Bolzplatz der Fußball-Brüder Boateng in Wedding oder das Biesdorfer Flüchtlingswohnheim als erste Bleibe des russischen Schriftstellers Wladimir Kaminer ("Russendisko") vertreten. Und auch die viel geschmähten Touristen, die sich abends auf der Admiralbrücke versammeln, sind dabei, schließlich gehören sie auch zu einer "Stadt der Vielfalt".