Erstellt am: 28. 3. 2012 - 17:35 Uhr
What the Fuck?
- It's complicated? Liebe im digitalen Zeitalter. Eine Themenwoche auf FM4
FM4
Das Problem bei autobiographischen Comics ist leider häufig das Autobiographische. Manchmal wäre es besser, man wüsste das eine oder andere nicht. Über das Sexualleben von Chester Brown weiß ich jetzt mehr, als mir lieb ist.
2008 legte er mit "Fuck" schon mal sein verletztes Herz aufs Silbertablett. Er, der Höfliche, der keine Schimpfwörter verwendet, und deswegen in der Schule geschlagen wird. Er, der Schüchterne, der sich erst nicht traut Mädchen anzureden, um später lieber die neue Kiss-Platte zu hören, statt mit dem Mädchen auszugehen. Er, der Einsame, der nicht mal gefragt wird, ob er zur Beerdigung seiner Mutter will. Mann, Mann, Mann, war das traurig! Aber gut.
reprodukt
"Fuck" hat Chester Brown seiner Freundin Sook-Yin gewidmet. "In Liebe." Sook-Yin kommt auch in seinem aktuellen Buch vor. Sie erzählt ihm gleich zu Beginn, dass sie ihn zwar immer noch liebt, aber sich soeben in jemand anders verliebt hat. Kein Problem für Chester, er liebt sie dennoch, für ihn ist sie nach wie vor eine der großartigsten Frauen, Sex haben sie eh schon länger kaum mehr und er darf auch bei Sook-Yin wohnen bleiben. Der neue Lover zieht schließlich in die Wohnung ein. Chester findet das praktisch, da wird die Miete günstiger und mit Sook-Yin versteht er sich besser denn je, die streitet sich mit dem Neuen. Was ihm allerdings fehlt, ist Sex. Bei einer Comicmesse könnte er sich mit einem Playmate fotografieren lassen. Ein Foto mit Umarmung für 50 Dollar. Das findet er dann doch etwas teuer. Da könnte er ja gleich eine Prostituierte engagieren, überlegt er sich und macht das auch. Und ist begeistert. Und nicht nur einmal. Sondern regelmäßig. Anfangs ist er noch recht nervös, fühlt sich verfolgt und vermutet selbst unterm Bett noch Polizisten.
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Schon bald aber sucht er souverän im Internet nach Huren, bestellt die in seine Wohnung und legt jede Anonymität ab. Zeitgleich versucht er seine Freunde von seinen Ansichten zu überzeugen, dass die romantische Liebe eine falsche besitzergreifende Konstruktion und für Sex bezahlen das Natürlichste auf der Welt sei. "Bei bezahlten Dates geschieht nichts, das bei unbezahlten Dates nicht auf geschähe. Warum wird mit zweierlei Maß gemessen?"
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Eigentlich könnte jetzt ein brisantes Thema aufgegriffen werden und Chester Brown könnte eine interessante Geschichte erzählen. Die fehlt aber völlig. Stattdessen reiht er die einzelnen Prostituierten langweilig nacheinander und watet hüfttief im unendlichen Meer der Naivität, um im Anhang dann ganz einzutauchen. Chester Brown geht davon aus, dass alle Prostituierten Freude und Spaß an ihrer Arbeit haben, die sie selbstverständlich freiwillig machen. Dass Frauen dazu gezwungen werden, kann nicht sein. Gewalt und Brutalität gibt es in seiner Welt nicht. Genauso wenig wie die romantische Liebe. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn er sich zu Beginn ausrechnet, wie häufig er eine Prostituierte besuchen kann.
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Sex ist Dienstleistung und schon während er diese Dienstleistung konsumiert, überlegt er, wie er die Nutte auf dem Webportal bewerten wird. "Es tut mir leid, ich werde ihr eine schlechte Kritik geben müssen." Die Prostituierten seiner Wahl sollen unter 28 Jahre alt sein. Manche schauen jünger als 18 aus, was soll's? Wenn sie sagen, dass sie älter sind, wird es schon stimmen.
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Immerhin fragt er sich bei manchen, die kaum Englisch können, ob sie vielleicht Sexsklavinnen sind, ob sie also mit Schleppern aus anderen Ländern gekommen sind. Aber auch da hat er im Anhang wieder eine einfache Lösung. "Die meisten Menschen, die sich an Schlepper wenden, tun dies bewusst und selbstbestimmt" und wollen unter anderem in reichere Länder "weil sie reisen wollen".
Seit mehreren Jahren ist er mit einer Prostituierten zusammen. Nein, nicht zusammen, aber gebunden. Er hat nur mehr mit ihr Sex. "Die Beziehung, die ich zu 'Denise' habe, wird so lange weitergehen, wie wir beide wollen, dass sie weitergeht." Er weiß, dass sie weg ist, wenn er nicht mehr zahlt…
- Das Programm der Themenwoche "Liebe im digitalen Zeitalter" im Überblick
Die Absichten von Chester Brown sind mir nicht ganz klar. Will er sein Sexualleben rechtfertigen? Will er sich für Prostituierte und ihre Rechte stark machen? Will er Prostitution enttabuisieren? Weder das eine noch das andere gelingt ihm, noch dazu fehlt dieser Graphic Novel ein Spannungsbogen, eine Geschichte. Aber Chester Brown, vielleicht solltest du statt "Pretty Woman" mal "Whores Glory" anschauen.
- Chester Brown: Fuck. Übersetzt von Torsten Alisch und Dirk Baranek. Reprodukt 2008
- Chester Brown: Ich bezahle für Sex. Aufzeichnungen eines Freiers. Mit einem Vorwort von Robert Crumb. Übersetzt von Stephan Pörtner. Walde & Graf 2012