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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

2. 2. 2012 - 12:30

Aus dem Takt der Welt

Totale Verweigerung, Familiengeheimnisse und Gesellschaftsdruck. Das Buch "Ich nannte ihn Krawatte" der österreichischen Autorin Milena Michiko Flašar ist ein berührendes und wichtiges Meisterwerk.

Ein Park irgendwo in Japan. Auf einer einsamen Bank sitzt der junge Taguchi Hiro, versunken in seine Gedanken.

Ich kam hierher, um mir darüber klarzuwerden, dass der Riss in der Wand, jener hauchfeine Sprung quer über den Regalen, drinnen wie draußen seine Gültigkeit hat. Zwei ganze Jahre hatte ich damit verbracht, ihn anzustarren. (Aus "Ich nannte ihn Krawatte" von Milena Michiko Flašar)

Zum Nachlesen:

Taguchi ist ein Hikikomori, einer jener Menschen, die das Zimmer ihres Elternhauses nicht verlassen und jeglichen Kontakt zur Familie auf ein notwendiges Minimum reduzieren. Nach zwei Jahren tritt er zum ersten Mal hinaus in die Welt. So plötzlich wie er diesen Entschluss gefasst hat, so plötzlich fällt ihm auch ein älterer Mann mit einer rotgrau gestreiften Krawatte auf, der auf einer gegenüberliegenden Bank sitzt.

Ein arbeitsloser Büroangestellter, der tagtäglich das selbe Ritual vollzieht, seine Bento-Box auspackt, isst, eine Zigarette raucht und meist gleich darauf einschläft. So verbringen beide Woche um Woche auf ihren Bänken, bis aus einem flüchtigen Augenkontakt intensivere Blicke werden. Erst ein kurzes Zunicken von Taguchi durchbricht diese stille Übereinkunft der gegenseitigen Wahrnehmung und ganz zaghaft entspinnt sich eine Begegnung, die das Leben beider Menschen für immer verändern wird.

Die große Verweigerung

Die österreichische Autorin Milena Michiko Flašar siedelt ihren neuen Roman zwar in Japan an, doch haben die vielen Themen, die kunstvoll ineinander verwoben sich anhand der tragischen Lebensgeschichten durch das zyklisch aufgebaute Werk winden, allgemeine Gültigkeit. Denn die Hikikomoris, von denen es von offizielle rund 50.000 in Japan geben soll, und deren Dunkelziffer allerdings bis zu einer Million beträgt, sind ein Phänomen, das auch in Europa besteht. Nur dass es hier keinen Namen dafür gibt.

Flašar: "Die Inspiration für dieses Buch kam durch einen Artikel im Spiegel der davon berichtete, dass in Deutschland eine Hikikomori sich schon seit zweiundzwanzig Jahren in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte. Mich hat daran diese radikale Nein interessiert. Das Nein zum eigenen Mensch-Sein, das darin besteht, in Kontakt, in Beziehung mit jemand anderem zu sein. Und auch die Frage, wie kommt jemand da auch wieder raus."

Milena Flašar, schwarzweiß

Ingo Pertramer

Im Buch ist es der arbeitslose Salaryman Ohara Tetsu, der Taguchi nach und nach behutsam aus seiner Isolation lockt. Doch auch er ist ein Außenseiter, der von der Firma entlassen aus dem gesellschaftlich harmonischen Rahmen gefallen ist und seiner Frau nach wie vor die Illusion eines perfekten Arbeits- und Familienalltags vorspielt. So kreisen die Lebenskonzepte beider Hauptfiguren um die zentralen Punkte Verdrängung, Verschweigen und der Wahrung des Gesichts nach außen, worunter die Seele immer mehr zu leiden beginnt. Dabei ist für Milena Flasar die Familie der Dreh- und Angelpunkt.

Lesereise von Milena Michiko Flašar in Österreich

  • 02. März 2012: Buchhandlung Büchersegler, Graz
  • 08. März 2012: Österreichische Nationalbibliothek Literatursalon, Wien
  • 03. Mai 2012: Literarischer Lenz in Centrope, Theater Brett, Wien
  • 29. Juni 2012: Literaturfest „Sommerfrische“, Dornbirn

Flašar: "Gerade die Geschichte von dem Hikikomori spielt sich ja in dem System Familie ab. Einem Ort, der eigentlich von emotionaler Verbundenheit geprägt sein sollte, hier aber ein Ort der emotionalen Verstrickung in Form von Scham und Unterdrückung ist. Und was man unterdrückt, drängt immer wieder an die Oberfläche. Solange, bis man sich dazu entscheidet hinzuschauen. Erst dann hört es auf, einen zu bedrängen."

Die Autorin einer japanischen Mutter weiß um den vorherrschenden Erfolgs- und Anpassungsdruck in Japan, den sie immer wieder zu spüren bekommt, selbst wenn sie nur kurz dort verweilt. Das Buch ist aber auch ein Spiegel für unsere Breitengrade, in denen zur Zeit viele Magazine und Tageszeitungen mit alamierenden Überschriften vor Burnout warnen. Eine Krankheit, die sich derart schnell verbreitet, dass die Bildung eines gesellschaftliches Bewusstseins kaum nachkommt.

Die Macht der Stille

Buchcover "Ich nannte ihn Krawatte" von Milena Michiko Flasar

Klaus Wagenbach Verlag

Das dritte Buch "Ich nannte ihn Krawatte" von Milena Michiko Flašar ist im Berliner Klaus Wagenbach Verlag erschienen.

Gerade die knappe, glasklare und präzise Sprache, der Milena Michiko Flašar in ihrem dritten Werk "Ich nannte ihn Krawatte" einen perfekten Schliff verpasst hat, erzeugt vom ersten Kapitel an eine starke Grundstimmung, die durch das reduzierte, szenische Setting der zwei Parkbänke noch verstärkt wird.

Flašar: "Ich habe beim Schreiben dieses Buches eine starke Freude an der Schlichtheit, am Reduzieren empfunden. Auch an der Frage, wie viel es braucht, um Atmosphäre und Stimmung zu erzeugen. Und es braucht kein Wort zu viel. Außerdem hat es der Geschichte gut getan, Dinge nur anzudeuten oder auch nicht auszusprechen. Weil es gerade darum geht, um das Unausgesprochene und Unaussprechbare in der Familie zum Beispiel. Das heißt, wo die Leerflächen von dem, was untergründig da ist, eigentlich noch mehr Form geben."

"Ich nannte ihn Krawatte" ist nicht nur literarisch der stimmigste und berührenste Roman der in St. Pölten geborenen Autorin. Es ist auch thematisch ein aufwühlendes und wachrüttelndes Buch, das den lauten Hilfeschrei zwischen all den Zeilen der Stille und des Schweigens in ein großes Plädoyer transformiert. Ein Plädoyer für Mitgefühl und Menschlichkeit, für die Fähigkeit, mehr Verständnis für andere Menschen und ihre Situation aufzubringen. Denn die letzte Rettung aus der äußeren und inneren Isolation ist meist die respektvolle Begegnung mit einem Gegenüber, das heilende Sich-Öffnen und Zuhören.