Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Helden-Vernichtung"

Roland Gratzer

Links und Likes

5. 1. 2012 - 14:40

Helden-Vernichtung

Josef Haslinger erzählt in "Jáchymov" die Geschichte von Bohumil Modrý, dem besten Eishockey-Torwart der Nachkriegsjahre. Ein Roman über Vaterliebe, kommunistische KZs und die perfekte Kufenabwehr.

Jáchymov - Josef Haslinger

S. Fischer Verlag

"Jáchymov" von Josef Haslinger ist im S. Fischer Verlag erschienen und liest sich in ca. vier bis fünf Stunden.

Man nehme eine wahre, aber kaum bekannte Episode der Zeitgeschichte, führt einen fiktionalen Charakter mit einer unheilbaren Krankheit ein, hüpft wie ein postmoderner Springbock zwischen den Zeitebenen und Erzählperspektiven, skizziert ein grausliches Kapitel der tschechoslowakischen Nachkriegsgeschichte anhand einer Mannschaftssportart und kommt letzten Endes immer wieder in einer Stadt im tschechischen Erzgebirge an. Das können nicht viele. Josef Haslinger schon.

Der erste Satz mit Schnee:

Ich muss überlegen, was ich mache, wenn Zuzanka nicht mehr zurückfindet. Ich darf hier nicht warten, bis es dunkel wird. Nach oben kann ich nicht, also muss ich hinabspringen. Ich schaue hinab. Unterhalb des Felsvorsprungs liegt Schnee und die Böschung wird flacher. Von dort kann es nicht mehr so schwer sein, ganz in das Flussbett hinabzufahren. Aber vorher muss ich springen. Ich rufe Zuzanka, und hallo. Ist ja jemand? Hallo. Es hört mich niemand. Ich werfe die Stöcke hinunter und springe.

Der Schnee fällt...

...in der Tschechoslowakei und bei Eishockey-Turnieren in Schweden und in der Schweiz.

Bohumil Modrý

www.lanskroun.eu

Bohumil Modrý, Torwart der tschechoslowakischen Eishockey-Mannschaft.

Darum geht's:

Bohumil Modrý war der beste Eishockey-Torwart der späten 30er Jahre. Analytisch in der Vorbereitung, ruhig im Spiel. Nach einer Zwangspause während des Zweiten Weltkrieges war er der Kopf des tschechoslowakischen Eishockey-Wunders. Weltmeister, Europameister und Vize-Olympiasieger, Architekt im Zivilberuf. Doch seine mehrmaligen Ausreiseversuche nach Kanada und die Ablehnung der sowjet-gesteuerten Politik nach dem Krieg brachten ihn und seine Mannschaftskollegen ins Gefängnis. Zwar wurde er nach fünf Jahren freigelassen, zehn Jahre später war er aber tot. Schuld an seinem grausamen Ende war die Arbeit in einer Uranmine im Bergwerksort Jáchymov. Ohne Handschuhe und nur mit immer feuchten Fetzen bekleidet mussten die Häftlinge das Uran aus dem Berg hauen. Überlebt hat diese Tortur kaum jemand.

Schneesorte:

Eis. Das ist immerhin auch gefrorenes Wasser und metaphorisch dankbarer. Dikatorische Systeme sind schlimmer als diplomatisches Parkett, nämlich wirklich rutschig. Wenn's rennt, dann rennt's. Diese Super-Mannschaft, die praktisch alles gewonnen hat, war sich ihrer absoluten Immunität bewusst. Sie überlegten auf Auswärts-Turnierern, gemeinsam zu emigrieren und als Exil-Mannschaft in der englischen Liga mitzuspielen. Doch mit der Wucht des Systems konnten sie nicht rechnen. In Schauprozessen wurden sie an die Bande gedrückt und mit drakonischen Strafen stellvertretend für alle Systemabweichler bestraft. Diese genauso tragische wie hierzulande völlig unbekannte Geschichte aus unserem Nachbarland erzählt Haslinger in wildem Stil. Wie eine never ending Piroutte dreht sich das Buch rund um Modrý, seine Tochter und einen ostdeutschen Verleger, der eben diese Geschichte publizieren will und aufgrund seiner Morbus Pechterev-Krankheit zur Kur nach Jáchymov fährt. Ohne Warnung wechselt die Ich-Perspektive der Tochter mit der Erzähler-Perspektive, die den Verleger beim Lesen des Manuskripts zeigt. Dass man von Anfang an weiß, wie die Geschichte endet, macht die Darstellung des Strahlungsopfer-Siechtums noch dramatischer.

Bohumil Modrý

http://www.politictivezni.cz

Anfangs glaubte Modrý noch, er kommt nach ein paar Tagen wieder heim.

So liest sich das:

Aus einem Brief meines Vaters geht hervor, dass wir ihn alle gemeinsam im Dezember 1952 besuchten. Aber ich habe keine Erinnerung daran. Für mich ist es so, als wäre ich heute das erste Mal in Jáchymov gewesen. Obwohl, es gibt ein Bild, das ich nicht zuordnen kann. Es liegt Schnee. Mein Vater friert. Daneben ist ein warm angezogener Wächter. (...) Diese Szene habe ich vor mir. Ob sie von unserem Besuch in Jachymov stammt, oder ob ich sie erfunden habe, kann ich nicht sagen. Es ist ein Bild, keine Erinnerung. Vielleicht wollte ich den Zustand, in dem wir ihn damals vorgefunden haben müssen, frierend, ausgemergelt, halb verhungert, einfach nicht wahrhaben.

(...)

Sie waren populäre Weltmeister und dachten, ihnen könnte nichts geschehen. Vielleicht würden sie für den Aufruhr, den sie im Lokal verursacht hatten, bestraft werden. Vielleicht würden sie in der Mannschaftskabine wieder eine politische Belehrung kriegen. Die Grausamkeit, die auf sie zukam, konnten sie sich alle nicht vorstellen. Als man ihnen die Essensrationen reduzierte, gab man ihnen zusätzlich noch Abführmittel in den Kaffee, um das Hungergefühl zu verstärken.

Ausflug nach Jáchymov

www.gwangi.de

Heutzutage kann man tolle Ausflüge in das ehemalige Straflager und die Uranminen machen.

Und das lernen wir daraus:

Wenn der Wahnsinn System hat, schreckt das System auch vor Wahnsinn nicht zurück: "Sie haben sich von der Räudigkeit der Nazis anstecken lassen, ohne sich dessen bewusst zu sein", wird die tschechische Autorin Radka Denemarková auf der ersten Seite des Buches zitiert. Wir hier im Nachbarland wissen so gut wie nichts von dieser Grausamkeit. Unsere Wahrnehmung der Tschechoslowakei beginnt mit dem Prager Frühling im Jahr 1968. (In eben diesem Jahr wurde die gesamte Mannschaft posthum rehabilitiert. Viele Spieler waren da aber schon im Grab). Diese Ignoranz gegenüber der Geschichte vor der Haustür verkörpert im Buch niemand besser als das legendäre österreichische Stürmertrio Novak-Demmer-Feistritzer. Zuerst für die Österreicher, dann für die Nazis und dann wieder für die Österreicher. Tore haben sie immer geschossen, für wen, das war egal. Und wer noch eine Anekdote für den eSports-Abend daheim braucht: Zuerst haben die Kanadier den Tschechoslowaken das Eishockey spielen beigebracht und dann die Tschechoslowaken den Sowjets.

Ist wärmstens zu empfehlen für:

Neuschnee - Bücher wärmstens zu empfehlen

Geschichte- und/oder Eishockey-Nerds, die gar nicht darauf warten können, nach dem Lesen noch Stunden in der Wikipedia zu verbringen um sich Spielerbiographien, geschichtliche Ereignisse und Olympia-Tabellen anzuschauen.