Erstellt am: 3. 1. 2012 - 17:07 Uhr
Götterdämmerung auf Isländisch
Es gibt Songs, bei denen man sofort eine Landschaft im Kopf hat. Wie den hier (und das nicht nur weil einem die Landschaften im dazugehörigen Video von Michel Gondry ins Aug springen):
Thomas A.
Wer denkt bei Björks Evergreen "Jóga" nicht an Island, dieses naturmystische und immer noch mit vormodernem Charme kokettierende Eiland irgendwo zwischen Wahnsinn und Walgesängen? Den Text von "Jóga" mit all den "emotional landscapes" und "states of emergency", den hat Björks Landsmann Sjón geschrieben. Dessen rauschhafte Lyrik hat die Isländerin bereits mehrfach besungen, nicht zuletzt auf ihrem jüngsten Album "Biophilia".
Jetzt ist mit "Das Gleißen der Nacht" der siebte Roman des entrückten Literaten Sjón erschienen. Und – Überraschung! – ein konventionelles Buch ist das ganz sicher nicht. Aber eins wie gemacht für eisige Winterabende.
Der erste Satz mit Schnee
Von Gott zum Ostermahl bestimmt, oder zum Weihnachtsbraten, liefen diese feierlich benannten Lämmer den Notleidenden entgegen… Erst auf dem Innenhof machten sie Halt und blickten zurück nach dem elenden Grüppchen, dann schüttelten sie sich, als seien sie eben erst durchs Wasser geschwommen, und das Fett spritzte in steiler Fontäne durch die Luft und landete auf den Gesichtern der Hungerleider, die mit hängender Zunge herankeuchten, wie Kinder, die im Schneetreiben nach Schneeflocken schnappten, sie schlürften den Talgregen und wischten sich die Fettkrusten aus Augen und Mundwinkeln.
Der Schnee fällt in...
Island, in einer kurzen Episode auch in Dänemark.
Darum geht's
S. Fischer Verlag
Gar nicht so einfach. Sjón breitet auf nicht mal dreihundert Seiten einen lyrischen Abenteuerroman aus, angesiedelt im 17. Jahrhundert, gebaut um den Naturforscher Jónas Palmssón. Jónas, der Gelehrte nennen ihn seine Zeitgenossen, bevor sie ihn als Hexer brandmarken und auf die einsame Insel Gjullbarnerey verbannen. Dort hockt er auf einem Felsen und erzählt einem Meerstrandläufer Episoden aus seinem Leben.
Wie er in der Bibliothek seines Großvaters das Lesen lernt, wie er seine Frau Sigga trifft, wie er sich vor "den Unterirdischen" und anderen Dämonen fürchtet, wie er einen wandelnden Toten bekämpft, wie die Dörfler baskische Fischer abschlachten. Gebaut um Sommer- und Wintersonnenwenden, um eine Sonnen- und eine Mondfinsternis erzählt Autor Sjón vom Zeitenwandel: Jónas‘ vormodernes Wissen um grausige Kreaturen und magische Praktiken wird von den eifrigen Aufklärern des 17. Jahrhunderts als Hexerei diffamiert.
Ewiges Eis oder Tauwetter?
Eher schon Tauwetter: Jónas bleibt zwar im Exil, findet aber im spirituellen Universum eine neue Heimat. Während Meerstrandläufer übers Meer jagen und die Wellen sich an Klippen brechen, hat er gleich mehrere Offenbarungen.
So liest sich das
Und während der Höhepunkt hinter seinen Lidern einen Regenbogen zersprühen ließ und die einzelnen Farben wie Meteoriten in den leeren Raum schossen, bald violett, bald wasserblau, bald sonnengelb, ergoss sich sein Samen über die Erdkruste, füllte jede Vertiefung und jede Felsspalte, jeden Sprung im Kristall und jedes Erdloch. Auf diese Weise befruchtete Adam die Unterwelt, indem er mir seinem Schatten schlief; daraus entstammt das Verborgene Volk, das die düsteren Gefilde unter der Erde bewohnt.
Und das lernen wir daraus
Dass jeder das Recht auf seinen eigenen Glauben, seine eigene Weltdeutung, sein eigenes Gedankenuniversum hat. Punkt.
Ist wärmstens zu empfehlen für
Neuschnee - Bücher wärmstens zu empfehlen
Naturmystiker und angehende Magier, für Islandfreunde und alle anderen mit einem offenen Geist, die es nicht stört, wenn sich viel Lyrik in die Prosa mischt.