Erstellt am: 27. 11. 2011 - 15:25 Uhr
Tahrir und Pitchfork
Alle Fotos: on3
Gestern war ich in München beim on3-Festival. Und was das Lineup betrifft, hätte das nicht durchmischter sein können. Für mich waren das irgendwie zwei Veranstaltungen auf einmal.
Auf der einen Seite war da Neon Indian, gefeiertes Whizz-Kid des psychedelischen Synthie-Pop. Der Mann, der die Hipsterwelt dazu inspiriert hat, das Wort "Chillwave" zu erfinden.
Dazu noch gefühlte fünfzehn Bands, die allesamt in die Kategorie neuester heißer Scheiß fallen. Serenade etwa, das neue Projekt des Shout Out Louds Sängers. Oder die dänische Pop-Inszenierung Oh Land.
Auf der anderen Seite waren da Wust El-Balad und Deeb. Zwei Acts aus Ägypten, die im Arabischen Frühling eine wichtige Rolle spielten.
on3
Das on3-Festival, das kannst du dir so vorstellen: on3, das ist ein Kabel-, Sat- und Onlineradiosender in München - ein Anhängsel des Bayerischen Rundfunks. Und das on3-Festival ist so etwas wie das FM4-Geburtstagsfest in der Arena (was das Lineup betrifft), bloß dass es im Münchener Funkhaus stattfindet.
The Revolution will be rap-atised: Der arabische Frühling hat nicht nur die Politk sondern auch die Musik verändert. (Sammy Khamis)
Normalerweise spielen in den drei Konzertsälen im Münchener Funkhaus Orchester, auch da gibts also kaum Unterschiede zu meinem Arbeitsplatz in Wien.
Der ganze Abend war ziemlich cool, die meisten Bands hab ich zum ersten Mal gesehen, die Stimmung war freundlich. Bemerkenswert fand ich aber vor allem zwei Situationen, die ich dir kurz erzählen will.
Erstens
Den Abend beginnen Wust El-Balad. Eine siebenköpfige Rockformation aus Ägypten, die bei uns wohl unter "Jazzrock" laufen würde, weil uns die lose an arabische Musik angelehnten Rhythmen und die ungewohnten Percussioninstrumente irgendwie schräg vorkommen würden.
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Der Sänger stellt die Songs kurz auf englisch vor, danach performt die Band die arabischsprachigen Texte. Vor der Bühne hat sich eine Gruppe von etwa zwanzig jungen Ägypterinnen und Ägyptern die besten Plätze gesichert. An ihrer mitgebrachten Fahne sind sie leicht zu erkennen. Das hier ist *ihr* Konzert, so viel ist klar, wenn sie laut klatschen, raumfüllend tanzen und so irgendwie schon bei der allerersten Band Main-Event-Atmosphäre aufkommen lassen.
Richtig in Ekstase gerät dann die Ägyptengang, wenn Wust El-Balad ihren Song "Sout El Horeya" ankündigen. Mit dem trockenen Nachsatz: "Some people call this song the sound of the revolution."
Wow.
Jetzt mal ganz im Ernst. Wieviele Bands können so etwas von sich behaupten?
Sout El Horeya, das heißt so viel wie "der Klang der Freiheit". "In allen Straßen meines Landes klingt der Klang der Freiheit" - so der Refrain, und der Sänger probiert mit dem Publikum eine Art oh-oh-oooh Schrei-und-Echo-Spiel, mit dem die Band diesen Klang der Freiheit in den Popsong holt.
Die Ägypterinnen und Ägypter vor mir sind komplett außer sich. Sie fassen einander an den Schultern, liegen sich in den Armen und heulen einfach drauf los. Als würde hier jemand gerade ihre Nationalhymne spielen, die jahrzehntelang verboten war.
Der Klang der Freiheit, der hat im Fall von Ägypten mit jahrzehntelanger Repression, mit unzähligen Toten und einem politischen Erweckungserlebnis einer ganzen Generation zu tun.
Wust El-Balad haben immer wieder auf einer der Bühnen am Tahrir-Platz gespielt, etwa am Vorabend des Mubarak-Rücktritts oder jetzt, vor wenigen Tagen, als sie gegen den Militärrat protestiert haben.
Ihre Musik hat Menschen Kraft gegeben, weiter an die Revolution gegeben oder ihnen Trost gespendet, wenn vielleicht ein Angehöriger von der Staatspolizei zu Tode geprügelt wurde.
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Zweitens
Als Headliner kommt im Studio 2 gegen eins in der Früh Neon Indian auf die Bühne. Neon Indian, der zum Ende der Nullerjahre sphärische Synthie-Musik im Softporno-Charakter mit unterkühlten New Wave Vocals verbunden hat und die westliche Musikpresse in Verzücken gestürzt hat. Ruhm und Ehre gabs für sein Debütalbum 2009 von Pitchfork abwärts. Chillwave ist zum wichtigsten zeitgeistigen Sound geworden.
Alan Palomo (der Mann, der in den Anfangstagen Neon Indian allein war - und der jetzt eine Band mit diesem Namen um sich schart) will mit Zuschreibungen wie Chillwave nichts zu tun haben. Aber er ist sich im Interview sicher, dass seine Botschaft, die ewig junge Teenage-Love-Story im modernen Gewand, genau das ist, was die Menschen immer berühren wird.
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"Alle meine Freundschaften und Beziehungen haben viel damit zu tun, einfach eine kleine Message zu schreiben und Enter zu klicken", beschreibt er seine Lebensrealität.
Auf der Bühne sitzt Alans Haarschnitt perfekt, die JD Samson Gedächtnisgarderobe passt wie angegossen, und die Synthies fiepsen so richtig fies. Die mittlerweile schon reichlich angeschwitzte Masse tobt.
Und dann?
Und dann denke ich einen Moment daran, warum die Sache nicht umgekehrt ist.
Warum in aller Welt besitzt diese, gar nichts aussagen wollende, Inszenierung von Frühzwanziger-Bubenträumen in unserem Kosmos mehr Relevanz, als die Band, die womöglich den Sound einer ganzen Revolution geschaffen hat?
Wie misst man überhaupt die Relevanz von Pop? Künstlerische Bedeutung? Kommerzieller Erfolg? Politischer Erfolg?
Die Antwort, die gibt im Interview ausgerechnet Hany Adel, Sänger der Band Wust El-Balad: "Wir sind nicht zwingend eine politische Band. Wir erzählen in unserer Musik über das Leben. Das Leben der Menschen, das Leben in unserem Umfeld. Ändern sich die Menschen, ändert sich die Musik. Nicht, weil wir bloß mit der Welle reiten wollen."
Sondern weil es das ist, was relevant ist. Und genau dadurch wird es ja auch erst spannend, dass unterschiedliche Kulturen, Subkulturen, Strömungen oder gar Mini-Cliquen ihre eigenen Codes, ihre eigene Kommunikation und ihren eigenen Pop haben.