Erstellt am: 20. 11. 2011 - 14:16 Uhr
Song Zum Sonntag: L/O/N/G
- Der Song zum Sonntag auf FM4
- L/O/N/G sind der Americana Pionier und Walkabout Chris Eckman und der Elektroniker Rupert Huber (Tosca), live zu sehen beim BlueBird Festival am 24.11.011
- Über L/O/N/G macht sich auch der geschätzte Wissenschafts- und Popjournalist Thomas Kramar in der Presse am Sonntag seine Gedanken.
"American Primitives in a Great Awakening remembers the Future already passed"
Hier hat wiedermal eine Nummer, eigentlich ihr erster Satz, haufenweise assoziativ-versteckte Anspielungen, die es auszugraben lohnt.
"American Primitivism" ist zweierlei: Einerseits die vom Bluegrass und Avantgarde-Gitarristen John Fahey erfundene musikalische Bewegung, die einfache folkloristische Techniken des "primitiven" amerikanischen Gitarrespiels (hauptsächlich Fingerpicking Blues Guitar) in einen neuen Kontext stellte und zur Basis von instumentaler Virtuosität und künstlerischer Sophistication machte. Diese Aufwertung einer zuvor als "unkünstlerisch" und "niedrig" (nicht zuletzt weil schwarz) empfundenen Musik ist eine der Säulen der US Roots Tradition, der Americana, und - im Willen der Gleichstellung der ruralen, ungebildeten Kunst mit der gebildet- akademischen - vielleicht der Amerikanischen Kultur überhaupt. Sie "erinnert sich an die Zukunft, die schon vorbei ist".
Wer an "Anarchist Primitivism" interessiert ist, dem seien hier nochmals die Schriften des österreichischen Philosophen und Anarchismusforschers Gabriel Kuhn nahegelegt, der außer über die US-Gegenkulturen auch allerlei Interessantes zu Poststrukturalismus, Piraten, Straight Edge und Fußball zu berichten weiß. Gabriel Kuhn hält am 25.11. einen Fußball-Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung "Tatort Stadion" in der Bäckerei Innsbruck.
Andererseits ist "Primitivism" auch ein anarchistisches Subgenre um den Aktivisten und Autor John Zerzan, der auf den Schriften von Tolstoi, Thoreau und den Situationisten aufbauend radikale Zivilisationskritik betreibt, kulminierend in der These, dass im Übergang vom Jäger/Sammler zur Sesshaftigkeit bereits die Wurzel allen Übels der Zivilsation begründet liegt. Es "erinnert sich an die Zukunft, die schon vorbei ist". Primitivism geht von ganz links bis ganz rechts, von Veganern und Konsumverweigerern bis zur berühmtesten Figur der Bewegung, Theodore Kaczynski, dem "Una Bomber", dessen teilweise hellsichtige Zivilisationskritik in lebensverachtenden Terrorismus mündete und auf den sich sogar der ideologisch gegenteilig verortete Anders Breivik bezieht.
Great Awakenings sind drei historische protestantische religiöse Erweckungsbewegungen von fanatisierten Gläubigen, stark individualisierte, undogmatische Bekenntnisse zu einem teilweise urchristlichen, im dogmatischen Sinne "primitiven" Christentum, die die Masse an verschiedenen Unterkirchen in den USA begründet haben und auf deren körperlichen, leidenschaftlichen Stil ("I have seen the light") sich noch heute jeder reaktionäre Fernsehprediger beruft. Die Unmittelbarkeit der Erweckung ist amerikanisch - individualistisch, die "Great Awakenings" für das Selbstverständnis des religiösen Amerikaners wichtiger als jede ander Erweckung in der christlichen Welt.
Nicht schlecht für den ersten Satz einer Rocknummer, oder? Vielleicht hat Chris Eckman gar nicht auf diese drei fast transzendent zu nennenden Phänomene Bezug nehmen wollen, sondern wollte nur einen Freiheits-Rockmythos im Sinne des "let's take some drugs and drive around" beschreiben. Interessant ist es doch. Und gut klingen tut es auch.