Erstellt am: 1. 11. 2011 - 16:29 Uhr
Vlog #12: Itsy Bitsy Teenie Weenie
Es sind eher die kleinen Dinge, die einem von der Viennale hängen bleiben. Nicht die Stricherllisten, wie viele Filme jetzt tatsächlich „gut“, „mittelmäßig“ und „schlecht“ gewesen sind. Oder ob man es geschafft hat, tatsächlich alle dreißig geplanten Vorstellungen zu besuchen. Das sind Bankierszugänge zum Kino, das ich immer genau deshalb geschätzt habe, da es sich nicht festschreiben oder kategorisieren lässt. Alle Eindeutigkeiten sind Lügen, weil Film immer zuerst ein Gefühl ist.
It's a kind of magic
Was bleibt, ist nicht ein Qualitätssiegel (wertvoll according to me), sondern ein Wust an Zugängen und Befindlichkeiten, über dem man grübeln sollte. Einige davon rinnen dann in die eigene Lebenswelt hinein: plötzlich, also eh immer genau dann, wenn man nicht damit gerechnet hat, blitzen Erinnerungen auf an einen bestimmten Moment aus einem bestimmten Film. Weil die Frau rechts hinten in der Straßenbahn einen ähnlichen Gesichtsausdruck hat wie Isabelle Huppert in „Die Klavierspielerin“ (nicht schwierig, so jemanden in Wien zu treffen). Oder weil sich die Weizenähren just so im Wind wiegen wie in Malicks Days of Heaven.
Die Erfahrungen aus dem Kino werden zum Teil meines Innenlebens. Sehr interaktiv all das, und ich liebe es. Als ich vor sieben Jahren zum ersten Mal nach Oxford gefahren bin, sind mein Freund und ich ins Christchurch College gegangen. Weil dort jener Treppenaufgang steht, auf dem Harry Potter zum ersten Mal Minerva McGonagall trifft. Auch die Dining Hall (für die Filme im Studio nachgebaut und perspektivisch vergrößert) befindet sich dort. In diesen Momenten fühlte ich mich angekommen in einer Zwischenwelt, in einem Zwischenraum, einem Ort, der gleichzeitig wirklich und Teil meiner Fantasien ist. Jawohl, das Kino ist mächtig – und weitaus mehr als das, was auf der Leinwand passiert.
http://jamarattigan.livejournal.com/355842.html
Viennale ist.
Es ist auch das Gesicht des Barmenschen im Gartenbaukino, der immer so nett ist, mir meinen Kräutertee in zwei Pappbechern zu überreichen, weil ich mir sonst meine Finger verbrennen würde. Oder auch das der Studentinnen, die gewandet in scheußliche Uniformen den Sponsoren-Whiskey austeilen müssen. Mit einem Lächeln selbstverständlich. Und die gleich ganz konsterniert reagieren, wenn man mehr sagt als Danke! Das ist auch meine Enttäuschung, als mir die nette Frau hinterm standesgemäß holzvertäfelten Box Office des Metro Kinos mitteilt, dass sie heuer leider keine Getränke mehr verkaufen. Dort wo letztes Jahr noch die Bar stand, sieht’s jetzt aus wie am Sperrmüll. Das ist das Gefühl der mir immer wieder vor die Augen rutschenden Kapuze, während ich mit meinem bei einer großen amerikanischen Kaffeehauskette nach langer Wartezeit erstandenen Heißgetränk über die Kärntner Straße retour ins Metro Kino eile. Und auch das andauernde Geseufze, Gestöhne, Geschmatze und Gegähne einer passage-tauglich bronzierten Mittzwanzigerin, die während „A Dangerous Method“ direkt hinter mir sitzt und mir den Film ruiniert. Selbstverständlich auch das erhabene Gefühl an einem Montagnachmittag im schütter gefüllten Gartenbau zu sitzen und sich gleich über vier Sitze auszubreiten. Einen für meine Tasche, einen für meine Mandarinen, einen für meinen Mantel und den letzten für mich.
Totemtanz
So geschehen gestern bei der Vorführung von Totem, dem Regiedebüt der jungen Deutschen Jessica Krummacher, das im Pocket Guide als „alltäglicher Horrorfilm“ angekündigt wird. Eigentlich hätten meine Alarmglocken da bereits schrillen müssen, denn solche Guides sind dazu da Lust zu machen auf das Programm und müssen sich demnach nicht selten mit klugen Formulierungen aus der Misere ziehen. Tatsächlich ist „Totem“ ein außergewöhnlich spröder Film. Aufgezeichnet in kalten, hässlichen Digitalbildern, die kein Geheimnis mehr zulassen. Vielleicht wollte Krummacher das so. Das kann gut sein. Ich gewöhne mich allerdings nicht daran.
Jens Pussel, Viennale
Die Geschichte selbst klingt spannend: eine junge Frau namens Fiona arbeitet als Haushälterin bei einer Familie. Was sich gewöhnlich anhört, steuert schon bald absurdes Territorium an. Frau Bauer, die mit den schlecht blondierten Haaren, bekommt unerklärliche Wutanfälle, schubst und stößt Fiona durch die Gegend. Herr Bauer hingegen isst abends gern Wurst mit Soße vor dem Fernseher, fällt irgendwann unversehens über die junge, hübsche Haushälterin her. Später wird sie noch angewiesen, mit zwei Zwillingsbabys (aus Plastik, bitte schön) im Kinderwagen durch die kalte, klare Nacht zu spazieren. Fiona nimmt all das hin, als wäre die Welt eben so. Sie lässt sich ein auf das undurchschaubare Spiel ihrer Gastfamilie, auf die eigenartigen Blicke und eigenartigeren Handlungen der Menschen um sie herum.
Jens Pussel, Viennale
Griechischer Wein
Man muss Krummacher zu Gute halten, dass sie die Psychologisierung ihrer Figuren konstant verweigert. Ebenso wie ein Mindestmaß an Logik oder Nachvollziehbarkeit. Allerdings ist „Totem“ weder ästhetisch noch konzeptuell interessant oder aufregend genug, um die spätestens nach der ersten halben Stunde Nerv tötend selbstzufriedene Sinnlosigkeit auszugleichen. Hinzu kommt, dass „Totem“ nicht annähernd so originell ist, wie er gerne wäre, da sich die junge Regisseurin von einem Schlüsselwerk des neueren europäischen Autorenfilms hat inspirieren lassen.
2009 fertigt der junge Grieche Yorgos Lanthimos, dessen Zweitfilm Alpis auf der Viennale zu sehen war, mit seinem dadaistischen Hauptwerk Kynodontas / Dogtooth so etwas wie phantastische Alternativvision zu den ewig gleichen Neoverismus-Abhandlungen des Arthaus-Zirkels. Ohne Erklärungsmodelle anzubieten, folgt er darin einer von der Restwelt abgeschotteten Familie, deren Mitglieder die Welt für sich anders definiert haben, als die anderen. Sexualität und Kommunikation laufen mechanisch ab, sind Tauschgut und Material in einer an Science-Fiction-Dystopien angelehnten Anderswelt. Ohne Zweifel hat Krummacher „Kynodontas“ gesehen und geliebt: Spuren des griechischen Hits ziehen sich durch ihren ganzen Film.
Zeitfalten
Dann schon lieber das alte Gesicht von Deannie Yip, jener lebensechten Schauspielerin, die die große Hong-Kong-Regisseurin Ann Hui in den Mittelpunkt ihres Meisterwerks Tao Jie / A Simple Life stellt. Ich fühle mich ein wenig wie einem Ozu-Film. Soll heißen, dass sich während des Erlebens oberflächliche Unruhen legen, dass man plötzlich, ganz elegant und mühelos, auf das Wesen der menschlichen Existenz blicken kann, ohne sich danach gleich von einem Hochhaus stürzen zu wollen.
Viennale
Nämlich weil „A Simple Life“ angeleitet ist von Huis Humanismus, einem nichts versteckenden, aber wohlwollenden Blick auf das alltägliche Leben. HK-Superstar Andy Lau spielt darin eine Variation auf sich selbst: einen Regisseur, den eigentlich nur mehr seine greise Haushälterin an sein früheres Leben erinnert. An ein Leben ohne Galapremieren und Festessen. Als die eines Tages einen Herzinfarkt hat und danach nicht mehr in der Lage ist, den Haushalt zu schmeißen, finanziert er ihr ein Zimmer in einem der besseren Seniorenwohnheime der Stadt, was gemessen an europäischen Standards immer noch eher an ein Bettenlager erinnert.
Viennale
Über gemeinsame Spaziergänge und Gespräche lernen schließlich beide Abschied zu nehmen von ihrem früheren Leben, von ihrer gemeinsamen Zeit. Ann Hui erzählt diese einfache Geschichte mit so viel Wärme, aber abgerückt von Sentimentalitäten, Intelligenz und Humor, dass ich nach den zwei Stunden immer noch mit feuchten Augen im Kino sitze. Manchmal, denke ich mir, manchmal sind es eben die kleinen Dinge, die das Kino ausmachen. Die Gesten, Blicke und Stimmungen, die man mit nach Hause nimmt. Von denen man ein ganzes Leben lang zehren kann.
„Tao jie / A Simple Life“ ist am Mittwoch, 2. November nochmals um 11 Uhr im Künstlerhaus Kino zu sehen. „Totem“ wird am selben Tag um 21 Uhr im Künstlerhaus Kino wiederholt.