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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

29. 10. 2011 - 18:54

Vlog #9: Weiße Tränen

Baden in Blut und Champagner. Bebende Brüste in der Belle Epoque. Meinen Viennale-Einstand feiere ich im Bordell.

Endlich zurück aus London! Bevor jetzt jemand schreit, wie es denn überhaupt gehen kann, dass ein FM4 Filmredakteur während der Viennale Wien verlässt, dem seien drei güldene rechtwinkelige Dreiecke vors geistige Auge gemalt, dem sei Eponas Lied ins Ohr gesummt, dem sei in alter Goronen-Tradition ein Stein an den Kopf geworfen. Jop, ich musste zum The Legend of Zelda-Symphoniekonzert, ich MUSSTE einfach hin.

Jetzt ist aber Schluss mit all dem Mumpitz, jetzt gehen wir wieder in die Vollen. S’is ja immerhin Viennale, yay! Meinen Hut ziehe ich vor Kollegin ScorPia Reiser, die sich so todesmutig wie stilvoll in die Filmmassen gestürzt und ihre Erfahrungen in wunderbaren Artikeln beschrieben hat. Wie auch immer, bleibt es eine für mich eigentümliche Situation, jetzt das Parkett zu betreten, wo alle anderen schon damit verwachsen sind; oder sich jedenfalls darauf bewegen, als hätten sie noch nie etwas anderes getan, würden auch nie etwas anderes tun. Ich werde gequält von diesem Gefühl, ich hätte etwas versäumt, ich wäre eben nicht dabei gewesen, als es Ka-ching gemacht hat, bei all diesen magischen Momenten, die ein großes Festival wie die Viennale täglich produziert.

Drive

constantin film

I assume, that was one of your magic moments this year, wasn't it? TELL ME!

Wie bei vielen anderen schwierigen Situationen in meinem Leben, so spendet mir auch jetzt die Jazz Gitti Trost. Ich denke an ihre ewigen Zeilen "Kränk di net/es is jo eh scho z’spät/und weil’s net onders geht/bitte kränk di net." Also alles weggewischt, ich tu, als wäre ich schon verzaubert und kann mir ja zur Not vorgaukeln, ich sei von Anfang an dabei gewesen.

Ein Freitagnachmittag. Einen Espresso in die rechte Hand gekrallt, versinke ich in Gedanken daran, dass mein Magen heute Nacht sicherlich wieder rebellieren wird aufgrund des vielen Koffeins und Nikotins und Alkohols und Fettes und überhaupt, mit dem ich ihn quäle. Dann aber alles vergessen, weil das Gartenbaukino sich vor mir ausbreitet, als hätte ich ein Weitwinkelobjektiv vor meine Hornbrille gespannt. Und, huch! Es beginnt, das Kribbeln, die Vorfreude, das Kind-Sein. Auf ins Puff!

Where the Wild Roses Grow

Besser gesagt ins Bordell L’Apollonide, einem Zwischenweltort im schwitzenden, keuchenden Paris der Belle Epoque. Jahrhundertwechsel ist! Das 19. rinnt aus, während das 20. anklopft. Im „L’Apollonide“ steht die Zeit aber ohnehin still, jedenfalls wenn man das notwendige Kleingeld dafür hat. Der französische Regisseur Bertrand Bonello gehört zu den Wilden des französischen Gegenwartsfilms, erweist sich demnach auch als passgenau für die Aufgabe, einen Ort zu skizzieren, den man Bordell nennt und an dem sich die Mächtigen mit den Ohnmächtigen vergnügen, an dem die süßlich stinkenden Lügen und die scheußlich klar werdenden Wahrheiten einander die Hand geben.

Mit diesen Inhaltsstoffen arbeitet Bonello, errichtet daraus das faszinierende Panoptikum einer absterbenden Gesellschaftsordnung. Der Kapitalismus zerstört Orte wie das „L’Apollonide“, weil sich dort der Waren- und der Gefühlsaustausch vermengen und das Resultat unkontrollierbar wird. Nur einmal muss man der Madame Geld geben, dann lässt sie einen ein in ihr „Haus der Toleranz“, dann kann alles passieren.

Prostituierte in einem Jahrhundertwendesalon

Viennale

Bevor die Männer kommen, gehört die ganze Welt den Mädchen der Madame.

Schampus und Blut

Und während die eine im Champagner badet, soll die andere Puppe spielen. Die dritte schließlich willigt in ein sadomasochistisches Spiel ein und lässt sich ans Bett fesseln. Unfähig zur Gegenwehr, umkreist ein junger Mann ihre Nippel mit einem Messer, fährt ihr damit die Kehle hinauf, schiebt die Klinge zwischen ihren Zähnen hindurch in den Mundraum. Eine ruckartige Bewegung, Blutfontänen. Bonello schneidet weg, lässt uns im Ungewissen, wie das Blutbad begonnen hat und wie es ausgegangen ist.

Aber das Taumeln, das scheint insgesamt Wirkungsprinzip zu sein von diesem Film. Eine klassische Geschichte verweigert er ebenso wie eine dramaturgische Kurve. Eher schon zieht das Drehbuch Schleifen, wiederholt einzelne Einstellungen und legt Rahmen um die bildschönen Frauen im wabernden, aufgeheizten Ambiente. Nur wenn er sie allein vorfindet, und das kommt vor allem im letzten Drittel häufiger vor, dominiert die Traurigkeit, dominiert das Wissen über die eigene Unfreiheit, über den goldenen Käfig, in dem sie alle gefangen sind.

Nackte Frauen.

Viennale

Die Frau, die lacht...

Das Bordell ist hier nicht wie in ungleich spießigeren, moralisch einfach gestrickten Filmen, ein Spiegel der Gesellschaft. Sondern ein Abbild der Filmindustrie. Bonello bewundert die Huren wie nur ein Regisseur Schauspielerinnen bewundern kann. Er idealisiert sie und stilisiert sie hoch zu anmutigen Kreaturen, so geschmeidig gezeichnet und bruchlos in ihren Darstellungen, dass sie einem Diorama entsprungen sein könnten. Wie die Filmindustrie ist das Bordell ein in sich geschlossener Raum, fensterlos, mit nur gelegentlichen Brücken oder Ausläufen in die Wirklichkeit. Ansonsten genügt man sich hier selbst, existiert im künstlichen Universum, das für den Regisseur schon noch so etwas wie eine Utopie der Vergesellschaftung beherbergt.

Die Mädchen finden bei Madame ein Zuhause: sogar die eine, deren Wangen zerschnitten sind und die nur mehr „Die Frau, die lacht“ genannt wird, darf bleiben und verdingt sich als Wäscherin und Putzerin. Solidarität wird groß geschrieben. Man hilft sich, packt gemeinsam an. Die letzten Einstellungen von „L’Apollonide“ ersetzen die warmen Filmbilder mit kühler Digitalästhetik: Aufnahmen aus dem Gegenwartsparis, Prostituierte stehen an stark befahrenen Straßen. Wie zum Beweis, dass das, was war, vielleicht nicht gut, aber jedenfalls besser war, als das, was ist, lässt Bonello eines der „L’Apollonide“-Mädchen wie eine Zeitreisende an der Kamera vorbei marschieren. Statt dem rosigen Teint blickt einem das Aschgrau des Alltags entgegen.

Verstümmelte Frau

Viennale

"Die Frau, die lacht" ist schon jetzt eines der Bilder, die mir von der Viennale hängen bleiben werden.

„L’Apollonide“ ist einer der schönsten Filme über den Erfahrungs- und Lebensraum Kino, die ich kenne. Nicht nur gibt Bonello den Anwalt für die Erotik des Analogbilds, nicht nur lässt er Regiekollegen wie den großartigen Jacques Nolot oder Xavier Beauvois Freier darstellen. Er errichtet „L’Apollonide“ als Mahnmal für eine vergangene Gesellschaft. Eine Welt, die sich selbst noch Schlupfwinkel und Ritzen wie eben das Bordell im Film gestattet hat, um nicht vollkommen den Verstand zu verlieren.

... weint weiße Tränen

Orte wie dieser, an denen das Leben in all seiner Schönheit und Vulgarität bebt, sind längst demontiert worden. Geblieben sind nur Träume, wie der, den "Die Frau, die lacht" gleich mehrmals erzählt: wie sie ein Mann brutal liebt, sein Sperma in ihren Unterleib spritzt, sein Saft durch ihren Körper wandert, sich hinter ihrem Gesicht sammelt und durch die Augen ihren Körper wieder verlässt. Sie weint seinen Samen, der auf ihren Wangen trocknet. Den Samen des Mannes, der sie zerschneiden wird. Liebe, Lust, Trauer und Tod, zusammengefasst auf ein paar Quadratmetern Leinwand.

Alle schnell Entschlossenen können sich Bertrand Bonellos L'Apollonide)Samstag Abend ansehen: die Viennale zeigt den Film um 21:00 Uhr in der Urania. Es gibt allerdings nur mehr Resttickets.

Vieles, vieles gibt es noch zum Erleben: ich tauche ein in die Biografien von Genesis Breyer P-Orridge und Harry Nilsson und diskutiere mit Freund und Jung A Dangerous Method. Außerdem kann ich es natürlich nicht erwarten, dem immer schicken, immer statthaften David Cronenberg persönlich ansichtig zu werden. Auf, auf ins Kino!