Erstellt am: 27. 10. 2011 - 15:14 Uhr
Vlog#7 Die Unruhe vor dem Sturm
I got too much life, singt Robbie Williams aus dem Radio der Bar im Künsterhauskino, running through my veins. Na wenigstens einer von uns, Robbie, murmle ich in den Milchkaffee, mit dessen Wachwerdeversprechen ich versuche die Müdigkeit meiner Augenringe auszulöschen. Noch kann ich nicht ahnen, wie wach ich in zwei Stunden sein werde, wie hergebeutelt ich nach "Take Shelter" aus dem Kino stolpern werde. Zunächst muss ich mich aber entschuldigen: Nimm's mir nicht böse, "Terri", du ruhige Indiegeschichte um einen dicken Jungen, seinen kranken Onkel und den stets superen John C. Reilly als Schuldirektor, sei mir auch nicht böse, Regisseur Azazel Jacobs, du cooler Hegel und interessante Figur im independent Film, aber ich kann heute nichts zu "Terri" sagen, denn er wurde ausgelöscht. Vom luftraubenden, körperdurchschüttelnden "Take Shelter". Ich sage alle anderen Filme für heute ab, da hat nichts mehr Platz und kann auch nichts mehr mithalten.
Der wunderbare Michael Shannon
In Jeff Nichols Film, der sich klassischen Zuschreibungen entzieht und mit Elementen aus Drama, psychologischem Thriller und Horror spielt, einem Horror, der sich in Träumen, Ahnungen und furchteinflößender Natur manifestiert. Herzstück dieses Films ist Michael Shannon als Curtis, Ehemann, Vater und Arbeiter. Wie der große (wörtlich und übertragen gemeint) Shannon einen Mann spielt, der im dunklen Himmel, im aufkommenden Sturm, in sich seltsam formierenden Vogelschwärmen Vorahnungen für eine größere Katastrophe sieht, nein: fühlt, nein: weiß, macht sprachlos.
viennale
Curtis Albträume reichen weit in seinen Alltag hinein, wenn ihn sein Hund im Traum beißt, schmerzt ihn der Arm den ganzen Tag über. Curtis schwitzt, kotzt, blutet und macht ins Bett. Seine Angst, seine Paranoia macht sich nicht nur über seine Gedanken, sondern auch über seinen Körper her. Vor der Berührung seiner Frau Sam (Jessica Chastain) zuckt er zurück. Shannon sitzt die Scham in den Mundwinkeln, die Verzweiflung im Wimpernschlag, die Angst in den Augen. Er wird einen Bunker bauen, denn there is a storm coming und seine Familie soll sicher sein.
viennale
Beklemmungen
Die Kamera nimmt Curtis in die Zange, ganz selten ist da Platz, Luft zum Atmen oder Möglichkeiten zum Ausbruch. Wenn sie doch zurückweicht und über Curtis Luft lässt, dann nur, um der Bedrohung einen Auftritt zu ermöglichen. Verdunkelte Himmel, Windhosen, Bäume, Wetterleuchten, Wolkenberge bauen sich über Curtis auf. Während die Natur lospoltert, versucht er gefasst zu bleiben, presst die Lippen zusammen und sucht Hilfe. Borgt sich Bücher über Geisteskrankheiten aus, besucht seine Mutter und fragt sie, was bei ihr die ersten Anzeichen für die paranoide Schizophrenie waren. Nur einen Ausbruch lässt der Film zu, da wird Curtis zum tosenden Seher, zum Propheten in einer Halle voller Leute, die sich zum Essen getroffen haben. Wenn er sich irrt, dann sind das vielleicht die Schizophrenie, die ihn beutelt, wenn nicht, dann steht vielleicht tatsächlich so etwas wie eine Apokalypse bevor.
viennale
Scars and Stripes
Jeff Nichols inszeniert eine Unruhe vor dem Sturm, eine Angespanntheit, die in den Kinosaal überschwappt. Eine Melodie echot Spieluhrenklänge, wie man sie in Horrorfilmen findet, ein surrender Ton bereitet Beklemmungen. Abgesehen von der Bedrohung durch einen Sturm, den Curtis ahnt und fürchtet, stecken Ängste und Sorgen in "Take Shelter", die in der Realität verankert sind: Kredite, ein marodes Gesundheitssystem, eine generelle Instabilität, die sich in Curtis spiegelt. Mit einem Schlag kann alles weg sein: Haus, Job, Familie. Auf dem Helm, den Curtis bei der Arbeit trägt, prangt ein Sticker der "Stars and Stripes", doch die USA kann grad die Versprechungen, auf denen sie gebaut wurde, nicht einlösen. Nichols buchstabiert mit dem exzellenten Shannon Beklemmung neu, gibt Verzweiflung einen neuen Anstrich und erweist sich als Meister der Spannung, abseits jeglicher Thriller-Assoziationen. Ich traue mich nicht mehr zwinkern, aus Angst, etwas zu verpassen.
viennale
Körperkino
Als die Leinwand zum Ende des Films schwarz wird, schreit ein Mann in den hinteren Reihen einen Jubeljauchzer, ich würd auch gern schreien, doch mein Mund ist trocken, dafür ist zwei Sinnensorganstockwerke weiter oben alles überflutet. Ich bleibe sitzen und schluchze, ich weine und weiß noch nicht mal, warum. Mein Herz rast und meine Knie zittern. Auch das ist Körperkino. Gimme "Take Shelter".
Und sonst so?
Schaut euch "Take Shelter" an, er läuft noch am 31.10.2011 um 23 Uhr im Gartenbaukino. In Österreich wird er voraussichtlich im März 2012 anlaufen.