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Pia Reiser

Filmflimmern

26. 10. 2011 - 14:48

Vlog#6 A Serious (Cor)man

Schleichende Bedrohung in "Martha Marcy May Marlene" und eine Liebeserklärung an Roger Corman, in der Jack Nicholson weint. Und ich wünsch mir eine "Dinoshark"-Premiere, am besten auf der Viennale.

Scheiße, nein!, entfährt es der Frau neben mir während "Martha Marcy May Marlene". Ich freu mich ja immer, wenn Leute von einem Film so überrascht werden können, das Kino kann vieles mit mir anstellen, aber es erschreckt mich leider viel zu selten. Teil dieser breaking and entering Szene ist auch Brady Corbet, der in Hanekes "Funny Games U.S" quasi ausreichend Home Invasion Erfahrung gesammelt hat. Scheiße, nein, wiederholt sie nochmal und ihr Ausdruck ist fassungslos. So fassungslos war ich das letzte Mal, als SPOILERVIELLEICHTWASWEISSICH Severus Snape das Zeitliche gesegnet hat SPOILERAUSAUGENWIEDERAUF.

Elizabeth Olsen in "Marthy Marcy May Marlene"

viennale

Aus Martha wurde Marcy May

Während mich "Martha Marcy May Marlene" nicht erschrecken kann, so betört es mich eigentümlicherweise, zieht mich rein und spuckt mich abrupt wieder aus. Scheiße nein, denk ich mir, was für ein Ende. Sean Durkins Film beginnt in einer abgeschiedenen Idylle, ein Farmhaus, ein Wald, ein rumlaufendes Kind, ein Mann, der Holz hackt. Nur ein Geräusch verstört, ein windähnliches, bedrohliches Wummern nimmt vorweg, was uns das Bild noch kurz verschweigt. Hier ist etwas mehr als nur faul. Die Männer und Frauen, die hier leben, essen getrennt. Der Kuss, den der Führer dieser Gruppe (John Hawkes) Martha (Elizabeth Olson) auf die Stirn drückt, ist mehr Machtposition als Affektionsbekundung. Eines Morgens läuft Martha weg und ruft ihre Schwester Lucy an, bei der sie sich zwei Jahre nicht gemeldet hat.

viennale

Über die Familiengeschichte wird nicht viel erzählt, die Mutter ist gestorben, der Vater hat die Familie verlassen und Lucy nimmt Martha nun bei sich auf, in einem Ferienhaus in Connecticut, wo sie mir ihrem Mann (Hugh Dancy) wohnt. Schönheit und Perfektion dieses Films sitzt u.a. im Schnitt, er gleitet zwischen Marthas Zeit bei ihrer Schwester und Rückblenden zum Leben mit der Gruppe von Menschen, die immer weniger "autark lebendes Sommercamp" und immer mehr "Manson Family" werden.

viennale

Paranoia und Angst

Lucy wird von Martha nie erfahren, wo sie war und was passiert ist, unverständlich bleiben für sie und ihren Mann Marthas Fehlen vom richtigen sozialen Verhalten. Als sie nicht schlafen kann, legt sie sich zu ihrer Schwester ins Bett. Dass Lucy und Ted gerade miteinander schlafen, hält sie nicht davon ab.

"Do you ever have that feeling where you can't tell if something is a memory or if it's something you dreamed?" fragt Martha ihre Schwester und der Satz wird zum Kern des Films. Das Spiel mit Unschärfen unterstützt diesen Satz, Martha ist im Fokus, während oft Vorder- und Hintergrund verschwimmen. Vielleicht, so implizert das Erstlingswerk von Durkin, sind da auch Unschärfen in der Erinnerung. Oder im Jetzt

Junge Frau in weißem Oberteil in einer Wiese

viennale

Gewalteinbrüche

Die Szenen mit Erinnerungen an den Kult werden immer gewalttätiger, Bedrohung und Paranoia dominierten Marthas Leben. Eine Rückkehr in die Normalität ist nicht möglich und das Zuhause, das Lucy ihr bietet, ist ihr fremd, sie ist dem Kult zwar entflohen, doch losgelassen hat er sie nicht und ein Teil davon wird ihr sogar fehlen.

Sensationalismus ist Durkin fremd, die Bedrohung des Kults kommt aus der Beiläufigkeit, mit der der dortige Alltag inszeniert wird und wie schnell neue Mitglieder indoktriniert sind. John Hawkes schüttelt creepy Darstellungen aus dem Ärmel und gibt den T-Shirt und Jeans tragenden Patrick, der einnehmend und manipulativ an der Spitze dieses Kults sitzt. Was Hauptdarstellerin Elizabeth Olsen betrifft: Believe the hype. Das Komödienignorieren der Viennale irritiert mich zwar immer noch, doch für amerikanisches Indie-Kino (abseits vom quirky indie Begriff) hat die Viennale ein, nein, zwei gute Händchen.

Dinoshark

Scheiße, nein, entfährt es uns dann, als wir den wohlig warmen Gartenbaukinobauch verlassen haben. Es ist kalt. Zähneklappernd stacksen wir zum Künstlerhauskino zu "Roger Corman: Exploits of a Hollywood Rebel". Ich hätte mir ja zumindst eine Mini-Retrospektive gewünscht, die die Doku begleitet, so ein bisschen Genrezuckerguss auf der Viennaletorte. Immerhin das von Corman produzierte "The Tomb of Ligeia" ist im Programm, aber nach der Doku will ich natürlich den Film sehen, in dem barbusige Krankenschwestern im Dschungel rumballern und das einäugige Monster unter dem Meer und himmelnochmal, wo bleibt die "Dinoshark"-Premiere?

new world

"Dinoshark"

Roger Corman ist inzwischen über 80 und hat das freundlichste Lächeln der Welt, er hat über 400 Filme produziert, mit wenig Geld, Herzblut und Effizienz. Die Summen, die für Blockbuster ausgeben werden, hält er für obszön. What I object to is somebody else who spends $80 million, and it's two people walking around a room. What happened to the money on that film?

Roger Corman und Vincent Price

toutlecine

Ein aufmerksamer Beobachter

Corman ist nicht nur eine wichtige Figur für New Hollywood, wo er mit "The Wild Angles" und "The Trip" bereits einen Themenkanon vorgibt - Rebellen, Freiheit und Drogen -, er erkennt auch etwas, was das alte Studiosystem lange negiert: Die Macht der Popkultur und den Teenager als Zielpublikum. Corman inszeniert rebellische Backfische und Haudegen ebenso wie Krakenmonster, während 20th Century Fox noch glaubt mit "Cleopatra" der Kinokrise der 60er Jahre entgegensteuern zu können. Corman ist ein wachsamer Beobachter, er reagiert schnell auf Vorkomnisse oder Strömungen und ebenso schnell kommt sein Film dann auch in die Kinos.

Nicholson weint

Schlüsselfiguren Hollywoods, wie wir es kennen, verdanken ihren Durchbruch Corman, er ist einer der ersten, der Jack Nicholson eine Rolle gibt. Ron Howard, Joe Dante und Allan Arkush machen Filme für ihn. James Cameron beginnt bei Corman als Modellbauer.
Nicholson, im Lacoste-Leiberl mit Sonnenbrille auf einem Sofa sitzend, kommen an einem Punkt die Tränen, wenn er über Corman spricht, das Bild hat Seltenheitswert. Auch dabei im Reigen der Anekdotenerzähler und Laudatoren ist Peter Bogdanovich, der für mich jede Filmdoku adelt. Auch er beginnt als assistent director bei Corman. Bogdanovich, der immer streberhaft aussieht, ist ein Chronist des us-amerikanischen Kinos, eine allwissende Müllhalde mit Stecktuch, ein umermüdlicher Erzähler.

roger corman

Funkeln

Allan Arkush und Joe Dante sehen in Aufnahmen aus den 1970er Jahren aus, wie direkt aus "Dazed & Confused" gesprungen. 30 Jahre später sitzen sie wieder nebeneinander für diese Doku und der Enthusiasmus und die Liebe zum Film funkeln noch immer in ihren Augen. 2009 funkelt auch Cormans Augen noch ein bisschen mehr als sonst, er bekommt einen Honorary Academy Award, Anerkennung von einer Seite, die ihn jahrzehntelang nicht beachtet hat, ein hibbeliger Quentin Tarantino hält eine Laudatio, Filmlovers of the planet love you.

Peter Fonda und Nancy Sinatra in "The Wild Angles"

roger corman

Rebel yell: Peter Fonda und Nancy Sinatra in "The Wild Angles"

Und sonst so?

Der junge Ron Howard sieht aus, als würde er bei Garish mitpielen, Jonathan Demme trägt einen TV on the Radio Kapuzenpullover, und in den Häusern von LA hängen die hässlichsten Gemälde an den Wänden, das lernt man auch in der Corman-Doku. Ich klatsche im Kino nicht, wenn niemand, der mit dem Film in Verbindung steht anwesend ist, und überlege eine Reihung der Kinos aufgrund ihrer Käsetoast-Qualitäten. elchaos empfiehlt "The World, the Flesh and the Devil", läuft am 27.10. um 13.30 im Metrokino. Und jetzt ernsthaft: Wem gefällt die Viennale-Tasche?