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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

11. 10. 2011 - 20:02

Tränen und Gänsehaut

Doku-Darlings, Wut, Wahnsinn und Ryan Gosling am Steuer: Empfehlungen für die Viennale.

Das Viennale-Programm ist veröffentlicht, die Planung kann also losgehen. In der ganzen Stadt werden Stifte und Kalender gezückt und Strategien entwickelt, wie sich das alles nur wieder ausgehen soll. Der Kartenvorverkauf beginnt am 15. Oktober 2011, bis dahin sollte man sich selbst ausgeschnapst haben, was man unbedingt sehen möchte. Hier eine kleine Orientierungshilfe von meiner Seite, Empfehlungen und Ansherzlegungen. Eine Watchlist von Pia Reiser folgt am 17. Oktober.

Dragonslayer (von Tristan Patterson)

Alles, wirklich alles an diesem Doku-Darling vom diesjährigen SXSW riecht nach „subcultures made pretty and understandable for the mainstream“. Ein passionierter Skater stürzt sich in verrostete, ausgelassene Schwimmbecken hinter irgendwelchen Häusern in irgendeinem Amerika, irgendwo zwischen Nicholas Ray und Gus Van Sant. Schön schirch ist alles hier, auch die Sprache. Aber es ist Pattersons großer Verdienst, dass er den retroschicken Slackerismus eben nicht zur raison d’etre von Freizeitanarchisten hoch stilisiert, sondern den Blick – zuerst zögerlich, dann erschreckend bestimmt – auf die häusliche Kulisse dahinter lenkt. Die gegenkulturellen Bewegungen vertragen sich erstaunlich gut mit Skater „Skreech’s“ Rolle als Familienvater. Auf Gewalt folgt Zärtlichkeit, auf Unbedingtheit Kompromissbereitschaft. Einer der schönsten Filme des Jahres zum Leben als Widerspruch.

Junger Mann stützt Kopf in einen Hand und hält mit der anderen ein Skateboard, Szenenbild aus "Dragonslayer"

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FM4 begleitet die Viennale im Radio und im Netz: Ab 20.10 gibt es auf fm4.orf.at/viennale wieder das Viennale Tagebuch von Markus Keuschnigg und Pia Reiser

Cut (von Amir Naderi)

Ein schmerzhaft einfacher, ein schmerzhafter Film. Ein besessener Kinomensch richtet auf dem Dach seines Tokioter Wohnhauses Vorführungen – etwa von Buster Keatons „Sherlock Jr.“ – aus, bis ein Yakuza-Mob ihn davon informiert, dass sein Bruder tot ist. Kaputt geschlagen von den Gangstern, weil er seine Schulden – aufgenommen für seinen Bruder, damit der einen Film drehen kann – nicht mehr abbezahlen konnte. Im komplexen Schuldgeflecht nimmt dieser darauf hin die Funktion einen Punching Bags für die Yakuzas ein, die ihm ein paar Yen pro Schlag bezahlen. Das Leben ist ein Film. Jeder Schlag bedeutet die Erlösung. Leidenschaftsregisseur Amir Naderi filmt sich nach dem Iran und den USA jetzt in Japan dumm und dämlich. Heraus kommt ein monolithisches Werk voller Wut und Wahnsinn. Schwer auszuhalten. Aber gut.

Mann mit Verletzungen im Gesicht lehnt an einer Frau, Szenenbild aus "cut"

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Drive (von Nicholas Winding Refn)

Düsen im Sauseschritt, Schweben gen Transzendenz: dass der dänische Bilderwerfer Nicholas Winding Refn einer der ganz Großen der Regisseurszunft ist, daran besteht schon nach seinem Wikingeratmosphärenspiel „Valhalla Rising“ (2009) kein Zweifel mehr. Irgendwo zwischen Walter Hill und James Glickenhaus dürfte man „Drive“ einordnen, wenn man denn müsste. Eigentlich nämlich ist die Geschichte eines wortkargen Stuntdrivers (episch: Ryan Gosling) aus Hollywood, der sich in eine allein erziehende Mutter (Carey Mulligan) verschaut ein Film sui generis. Angetrieben von einem Tangerine Dream-esken Soundtrack, der beizeiten tatsächlich an deren epochalen Score für William Friedkins Meisterstück „The Sorcerer“ reflektiert, wird „Drive“ zu einem perfekt choreografierten, minimalistischen und sehr widersprüchlichen Film über US-amerikanische Helden- und Actionikonografien. Ein ganz großer Wurf.

Mann mit Lederhandschuhen in einem Auto sitzend, Szenenbild aus "Drive"

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Hesher (von Spencer Susser)

Joseph Gordon-Levitt, neben James Franco Hollywoods versatilster Schauspieler und ein konstanter Grenzgänger zwischen den Genres, ist „Hesher“, ein langhaariger, dauernd zugedröhnter Aussteiger, gleichsam Abriebfläche für das, was sich normale Gesellschaft nennt. Seine Bekanntschaft mit einem kleinen Jungen und einer Supermarktkassiererin (Natalie Portman) nutzt Jungregisseur Spencer Susser dazu, das asoziale Subjekt als letzte Rettung für eine verkommene Gesellschaft zu stilisieren. Das Resultat ist ein himmelschreiend komisches, vulgäres und herrlich verkommenes Stück Film. Der Nihilist von gestern ist der Utopist von heute. Schön!

Junger Mann mit Vollbart und langen Haaren in einer Unterhose auf einer Couch sitzend und rauchend: Szenenbild aus "Hesher"

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Koi no tsumi Guilty of Romance (von Sion Sono)

Der schönste, talentierteste, anmutigste Bastard des Weltkinos heißt Sion Sono. Niemand versteht es wie der japanische Regisseur das Poetische mit dem Populären zu kreuzen und damit Kreaturen zur Geburt zu verhelfen, die nur mehr mit Müh und Not als klassische Filme durch gehen. Seine Welt ist die der grellen Farben und irrlichternden Figuren: in „Koi no tsumi“, einer von drei innerhalb eines Jahres veröffentlichten Regiefilmen Sonos, reißt er drei Frauenporträts an. Die Handlungsstränge sind nur oberflächlich ineinander verwoben, Sinnstiftung interessiert diesen Regisseur ohnehin nicht. Den Zuschauer stürzt er in einen Abgrund der extremen Gefühle, der Wahnsinn wird auch in „Koi no tsumi“ zum Normzustand. All das ist keine leere Gegenwartsmetapher, sondern existenzialistische, an philosophische Versatzstücke rückgebundene Daseinsbeschreibung.

Junge Frau mit matrosenartigem Hemd steht in einem seltsam anmutendem Raum mit Kerzen und Graffitis, Szenenbild aus "Guilty of Romance"

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Take Shelter (von Jeff Nichols)

Es ist ganz sicherlich kein Zufall, dass der Aufstieg des Schauspielgroßmeisters Michael Shannon vom würdigen Nebenrollenbassin in den Olymp der leading broken men, gerade jetzt passiert, wo so viele Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten porös werden. Sein Gesicht ist nicht das eines Gescheiterten, sondern das eines Verunsicherten und Orientierungslosen. Es bringt das zum Ausdruck was alle fühlen: Unrast. Keine seiner Figuren formuliert das so kristallin, wie der Familienvater aus Jeff Nichols Thrillerdrama „Taking Shelter“. Gemeinsam mit ihm wird man atemlos wenn sich befremdliche Visionen in das Sichtfeld schieben, wenn das Andere, das Unbeschreibliche, die Angst in die Heimstatt eindringt. Und dann fängt die Welt an zu zittern, gerät tatsächlich aus den Fugen, während einen diese Augen von der Leinwand herab fokussieren und sagen: Ich habe es immer schon gewusst. Gänsehaut.

Mann hält Kind im Arm und steht auf einer Straße, Szenenbild aus Take Shelter

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Tao Jie A Simple Life (von Ann Hui)

Stimmt schon, das Hong Kong-Kino ist in diesen Breiten vor allem als Lieferant für hyperkinetische Körperkunstopern bekannt. Aber dann gibt es auch Regisseurinnen wie Ann Hui, schillernde Vertreterin der HK-New Wave der frühen Achtziger Jahre, die sich im Gegensatz zu Kollegen wie Tsui Hark (der in „A Simple Life“ in einem Cameo zu sehen ist) allerdings stärker diversifiziert hat. In ihrem jüngsten Werk erzählt sie eine jener einfachen, fast will ich schreiben: Ozu-artigen Geschichten, in deren Klarheit sich die Wesenheit des Lebens selbst in allen Farbschattierungen zu spiegeln scheint. Die Haushälterin eines Regisseurs (dargestellt von Superstar Andy Lau) wird altersschwach und von ihrem Schützling in ein Heim eingemietet. Dort lernen beide, sich langsam vom life as we knew it, zu verabschieden. Mit ruhiger Hand, warmherzig und angetrieben vom großartigen Schauspiel breitet sich die elementare Erzählung vor einem aus und entlockt Tränen, ohne im Sentiment zu versinken.

Mann schiebt ältere Frau, die in einem Rollstuhl sitzt, SZenenbild aus "A simple life"

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Außerdem: Party!

VIENNALE meets FM4
Samstag, 29.10. ab 22:00
im Viennale Festivalzentrum am Baseschiff

Live
Max Tundra

DJS:
FMqueer DJs: Czesch/Hölzl/Pieper
Philipp L’Heritier

Der Eintritt ist frei