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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

10. 8. 2011 - 19:53

Kein Sex drin, wo Sex draufsteht

Die Aufmerksamkeitsmaschinerie rund um Charlotte Roches Roman „Schoßgebete“ verspricht Sex und Tabubruch. Stattdessen gibt es neokonservative Beziehungsmuster und Psychotherapie.

Die geilen alten Säcke werden enttäuscht sein. Zumindest ab Seite 15. Denn was mit einer deftigen und detaillierten Sexszene im Stil von „Feuchtgebiete“ beginnt wird bei „Schoßgebete“ zu einem Psychogramm einer Langzeitbeziehung, zur Psychoanalyse in Buchform, zu einer emotional anstrengenden Aufarbeitung verschiedenster Traumata der Hauptfigur, die sich in großen Teilen mit Charlotte Roche deckt.

Helen ist erwachsen geworden

Das Phänomen „Feuchtgebiete“
Charlotte Roches Debütroman hat 2008 alle Grenzen gesprengt.

„Wenn Feuchtgebiete ein Roman über meine Jugend ist, dann erzählt ‚Schoßgebete‘ von meinem Erwachsen sein“, erklärt Charlotte Roche im vorab Interview mit dem Spiegel. Helen Memel aus dem Vorgänger-Bestseller ist erwachsen geworden. Die Protagonistin heißt jetzt Elizabeth Kiehl, ist 33 Jahren und lebt mit Mann und Kind in einer Patchworkfamilienkonstellation. Schoßgebete erzählt von drei Tagen aus ihrem Leben, das geprägt ist von Kindversorgen, sexuellen Diensten für den Mann und Psychotherapie; dazwischen Gegrübel, Rückblenden, Angstzustände.

Buch: Schoßgebete

DPA

War Sex in Feuchtgebiete noch Programm und Selbstzweck, so ist er in Schoßgebete die Garnierung auf dem Kuchen, der hier „die neurotische Frau im Allgemeinen und ihre Beziehungsarbeit im Besonderen“ ist. Oder vielleicht auch die bewusst gestreute Krume, um oben erwähnten alten Sack länger am Ball zu halten. Denn geworben wurde für das Buch ausschließlich mit der Eingangsszene und dem angeblich letzten Tabu „Sex in der Ehe“. Aufmerksamkeitsmaschinerie à la Roche eben. Auch deshalb, weil der Roman beinahe deckungsgleich ist mit ihrem Leben und das Rätselraten „Wo hört jetzt die echte Charlotte auf und wo fängt das Buch an?“ ein Spiel ist, das sie gerne spielt.

Traumaverarbeitung

Charlotte Roche: Schoßgebete ist am 10. August bei Piper erschienen.

Hauptfigur Elizabeth schleppt ziemlich viel mit sich herum. Wie in Charlotte Roches eigener Biographie geschieht am Tag ihrer Hochzeit ein schrecklicher Unfall. Ihre Mutter und ihre drei Brüder verunglücken mit dem Auto, die Brüder sterben, die Mutter überlebt schwer verletzt.

Die Rückblenden auf dieses tragische Ereignis sind auch die packendsten und interessantesten Stellen des Buches: Das Drama bahnt sich an in Form eines aufwändig gearbeiteten, für den Flugkoffer viel zu großem Hochzeitskleid an, das von der Familie im Auto zur Hochzeit gebracht werden muss. Die Geschichte verdichtet sich, als Elizabeth das Kleid der Familie bringt:

Sie wollen es unbedingt mal an mir sehen. Ich sollte Nein sagen und hart bleiben. Ich kann aber nicht, ich will es auch so gerne präsentieren. Ich will nicht so altmodisch abergläubisch sein, weil eigentlich darf doch niemand das Kleid sehen vor der Hochzeit. Ich schaffe es nicht, hart zu bleiben. Also schleppen meine Mutter, der Taxifahrer und ich den Kleidersack auf die Wiese hinterm Haus.

Das angelegte Kleid und das Herumalbern im Garten vor der Abfahrt, die diese um ein paar Minuten verzögert, werden für Elizabeth zur Schuldfrage und zur Frage, ob sie den Unfall hätte verhindern können, die sie ihr ganzes Leben lang quälen sollen.

Ich bin auf alles gefasst. Ich lasse mich vom Tod nicht mehr überraschen. Nein, nie wieder! Der Tod liegt auf mir, wenn ich einschlafe, er ist da, wenn ich aufwache. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemals wieder aufhört.

Mit dem Buch arbeitet Charlotte Roche ihr eigenes Leben auf, das auch durch diesen Unfall geprägt ist und über den sie mit dem Buch zum ersten Mal öffentlich spricht, nachdem sie zuvor zehn Jahre lang alle JournalistInnen verklagt hat, die darüber berichteten. Roche sagt, es sei ihr wichtig gewesen diese Geschichte aus eigenem Wunsch heraus und mit ihren Worten zu erzählen. Und - an dieser einzigen Stelle wird das Buch kritisch, ja vielleicht sogar politisch - sie geht hart mit den Methoden des Boulevardjournalismus ins Gericht, der aus persönlichen Tragödien sein Kapital schlägt.

Die Beste sein

Die Lehre, die Elizabeth im Buch aus ihren Schicksalsschlägen und dem bisherigen Leben zieht: Sie will immer und überall perfekt sein.

Sie will ihrem Kind die optimale Mutter sein, ihm Geborgenheit und Beständigkeit bieten und überhaupt alles, was sie von ihren Eltern nicht bekommen hat. Für ihren Mann will sie die perfekte Liebhaberin sein, klar kann sie supergut blasen und besucht ihm zuliebe gemeinsam Prostituierte. Gleichzeitig will sie nicht zu viel fordern, ihn nicht verändern wollen und überhaupt keine überdrehte Psychotante in der Beziehung sein, das hat sie so in der Paartherapie gelernt. Und auch die Therapie ist von einem gewissen Leistungsgedanken geprägt. Sie stellt zwar Müllabladehalde und Lebensaufrechterhaltung für Elizabeth dar, aber auch hier möchte sie gerne die ideale Therapierte sein. Alles möglichst bald und möglichst detailliert erzählen, um es dann „wie einen Tumor“ herausschneiden zu können aus dem Selbst, und wieder ein Stück besser geworden zu sein.

Bruch ohne Tabu

Neben dem Nicht-Tabubruchs des Sex in der Ehe, sagt Roche im Interview, sie hätte das Tabu der Frau als Beziehungsterroristin aufarbeiten wollen. Bloß ist das „hysterische Weib“ durchaus ein wiederkehrender Topos, wie man ihn zur Genüge aus Literatur und Film kennt.

Insofern emanzipiert sich „Schoßgebete“ nicht von althergebrachten Vorstellungen. Das beengte Familienglück, der Druck perfekt sein zu wollen, wirkt weitaus übelkeitsverursachender, als alle Tampontäusche und Klobrillenwischungen in Feuchtgebiete.

Was dort in der platten, biederen Rahmenhandlung nur vorsichtig angedeutet wurde (die Eltern zusammenbringen, ewiges Liebesglück mit dem Krankenpfleger) wird hier bis zum Ende durchgezogen und mündet in neokonservativen Beziehungsterror, wo Für-Immer-Zusammen-Bleiben oberstes Gebot und die lähmende Monogamie die Crux desselben ist.

Nur dass dieses angebliche letzte Tabu, die lebenslange Ehe, gesellschaftliche Wunschvorlage und (hetero)normativer Zwang ist - und keinesfalls revolutionär. Während Roche vordergründig alle möglichen Gebote umstößt, vor allem sexuelle, bleibt die romantische Zweierbeziehung unangetastet. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob das Label „Feminismus“ bei „Feuchtgebiete“ nur auf etwas aufgepappt wurde, was eigentlich immer nur eine Geschichte über Sex war.

Wesentlich eindringlicher in „Schoßgebete“ ist da der Abgrund namens Trauer und Depression, die Nähe zum Tod, die Aufarbeitung des Verlusts geliebter Menschen, und wie es sich auf alles Folgende im Leben auswirkt. Aber auch das ist im Buch oft Niederschrift zum Therapiezweck, ganze Passagen scheinen als freie Assoziation direkt aus der Analyse genommen zu sein.

Für Roche mag es ja legitim und wichtig und vielleicht Teil des Verarbeitungsprozesses sein, das alles aufzuschreiben. Aber warum sollten wir das lesen (wollen)? Natürlich eine Frage, die nicht in Roches Verantwortungsbereich liegt. Sondern sie knallt uns den Text hin und wir müssen selbst entscheiden.