Erstellt am: 9. 8. 2011 - 12:01 Uhr
Das Phänomen "Feuchtgebiete"
WG-Party, Mai 2008, 4 Uhr früh: Über das herumliegende pinke Buch und beherzten Lesungen daraus ist ein erbitterter Streit entbrochen: Die „Oh Gott, wie widerlich ist das denn“-Fraktion liegt massiv im Clinch mit der „Endlich reden Frauen über ihre Körperflüssigkeiten“-Fraktion. Eine Mitbewohnerin (von ersterer Fraktion) ist so wütend, dass sie die Diskussion verlassen und schlafen gehen muss. Als kryptisches Überbleibsel des Partystreits steht wochenlang noch „Bei uns heißt das Karfiol“ (eine Reminiszenz an die im Buch des Langen und des Breiten besprochenen Blumenkohl-Hämorrhoiden) mit Lippenstift quer über den Badezimmerspiegel geschrieben. Wer es war, können wir nie restlos klären.
DPA/Peter Endig
Ich kenne Menschen, die wegen des Buchs umschalten müssen, wenn sie Charlotte Roche im Fernsehen sehen. Ich kenne andere, die das Buch nicht lesen wollen, weil sie Roche grundsätzlich gut finden und sich das durch das Buch nicht verderben lassen möchten. Und wenn Frauen über Ansteckungsgefahren auf öffentlichen Klos diskutieren kommt häufig das Argument „Denk doch mal an Feuchtgebiete“. An Feuchtgebiete ist seit dem Frühjahr 2008 niemand vorbeigekommen, hatte man es gelesen oder nicht.
„Hygiene wird bei mir kleingeschrieben“
Mit diesem zentralen Satz ihres Buchs „Feuchtgebiete“ hat Charlotte Roche 2008 die im Mainstream gängigen Geschmacks- und Schamgrenzen gehörig ausgereizt und ausgedehnt. Die 18-jährige Protagonistin Helen Memel benutzt Avocadokerne als Dildo, wischt bei jedem Klogang auf öffentlichen Toiletten mit den Schamlippen kräftig über die Klobrille und beschäftigt sich im Detail mit ihren Körperflüssigkeiten, wie Eiter oder Menstruationsblut.
„Feuchtgebiete“ hat polarisiert und aufgeregt und es wurde viel und oft und meist sehr emotional darüber diskutiert. Auch wenn Charlotte Roche immer wieder betont, achtzig Prozent von Feuchtgebiete sei erfunden. Die Bilder, die sie mit dem Buch erzeugt, haben sich untrennbar mit ihrer Person im kollektiven Gedächtnis eingebrannt.
piper verlag
Am 10. August erscheint Charlotte Roches neues Buch „Schoßgebete“ im Piper Verlag.
Von abgelehnt zu Verkaufsschlager
„Ich habe tatsächlich gedacht, ich werde für das Buch getötet“, scherzt Charlotte Roche bei Grissemann und Stermann in Willkommen Österreich. „Ich kam mir todesmutig vor, dass ich als Frau so etwas schreibe, über jeden Millimeter der Schamlippen und der Klitoris und sowas. Und ich dachte, ich werde bei uns zu Hause im Kölner Viertel dafür mit Steinen beworfen.“
Mit Steinen beworfen wurde Charlotte Roche nicht: Ihr Buch stieg direkt auf Platz zwei in die deutschen Buchcharts ein, war kurzzeitig Weltbestseller und kaum mehr zu bekommen. Insgesamt hat es sich 1,7 Millionen Mal verkauft und damit im deutschsprachigen Raum den damals aktuellen Harry Potter hinter sich gelassen. Mittlerweile wurde es in über 20 Länder weiterverkauft. Dabei hat der DuMont Buchverlag die Startauflage doch vorsichtig auf 15.000 Stück beschränkt, wurde das Buch doch zuvor von einem anderen Verlag als zu pornografisch abgelehnt. „Und wir haben damals gesagt im Verlag: ‚Wir kaufen `nen Kasten Bier, wenn wir die verkaufen‘“, erinnert sich Roche.
Eine typische Story, die es eben braucht, um zur Legende zu werden.Anna Jeller, die in Wien die gleichnamige Buchhandlung betreibt, erzählt: „Von Verlagsseite ist da im Vorhinein durchgeklungen, dass dieses Buch entweder etwas wird oder total untergeht. Da war schon klar, dass etwas passieren könnte.“
Pornografisch?
Da Feuchtgebiete viele explizite Sexszenen enthält, und andererseits die Rahmenhandlung (Helen liegt im Krankenhaus) recht platt und teilweise gleichförmig ausfällt, muss sich Charlotte Roche immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, sie hätte Pornografie und keine Literatur produziert. Dazu passt, dass sich hartnäckig das Gerücht hält, das Buch würde zu gleichen Teilen von jungen Frauen und von älteren Männern gelesen. Der Verlag will dies nicht bestätigen, angeblich werden darüber keine Aufzeichnungen geführt. Wie denn auch, das Buch hat sich ja beispielsweise an Tankstellen gut verkauft.
http://www.flickr.com/photos/maria_keays/
Lea Susemichel, feministische Journalistin, findet den Vorwurf seltsam: „Na und, dann ist es halt pornografisch. Wenn Männer die Avocado-Dildo-Stories aufregend finden, dann kann man das ja nicht dem Buch zum Vorwurf machen.“
Feministisch!
Was Feministinnen erstaunt hat, ist, dass das explizite Beschreiben von Körperlichkeiten und von weiblicher Sexualität und Selbstbefriedigung noch immer derart für Furore sorgt: „Wir mussten feststellen, dass es für viele junge Frauen leider überhaupt noch nicht selbstverständlich ist, sich selbst zu befriedigen oder auch nur über das Thema zu reden. Man hatte das Gefühl, dass die eh alle längst ihre Dildos ganz offen im Badezimmer stehen haben. Und die Diskussion über das Buch hat gezeigt, dass dem mitnichten so ist“, wundert sich Lea Susemichel.
Man kann „Feuchtgebiete“ also vorwerfen, pornografisch-voyeuristische Gelüste zu befriedigen oder einfach nur schlecht und uninteressant geschrieben zu sein. Aber Charlotte Roches Anspruch, Frauen Worte für Details ihrer Sexualität zu geben und sich gegen den Hygiene- und Rasurzwang zu wenden, hat das Buch erfüllt. Denn scheinbar waren diese Themen im Mainstream noch lange nicht angekommen. „Deswegen würde ich durchaus sagen, dass es etwas gebracht hat, dass es dieses Buch gab. Und dass es deswegen auch ein feministisches Buch ist“, sagt Lea Susemichel. „Wenn das Thema das Einzige ist, was unter Feminismus firmiert, ist es natürlich traurig, aber ich habe kein Problem damit, wenn es auch unter Feminismus geführt wird.“
Inszenierter Tabubruch
Thea Dorn schreibt in einem Kommentar in der Zeit: „Was ist der Unterschied zwischen Josef Fritzl und Charlotte Roche? Im Fall Fritzl schlummert hinter der Fassade der Biederkeit der Tabubruch. Im Fall Roche schlummert hinter der Fassade des Tabubruchs die Biederkeit.“
Charlotte Roche wird gerne unterstellt, sie habe diesen Tabubruch ganz bewusst kalkuliert und inszeniert. Für dahinterstehende Biederkeit spricht, dass sie Mut zum Haar predigt, selbst aber nicht durchzieht, weil sie mit Achselhaaren in ihrer VIVA-Zeit „unter den Kommentaren gelitten habe wie ein Hund“. Oder dass sie jedem/r, der/die es hören will, erzählt, dass sie nicht möchte, dass ihre Eltern „Feuchtgebiete“ lesen.
Jochen Schmitz
Wie in ihrem Buch balanciert Charlotte Roche punktgenau auf einem schmalen Grat, auf dem sie sich einerseits als unschuldiges, verletzliches Mädchen gibt, das auf der anderen Seite explizit und ungeniert mit Hardcore-Themen aufwartet. Genau diese Mischung aus Unschuld und Sex ist einerseits eine klassische Porno-Zutat und Garant für Aufreger, weil alle Welt rätselt, wie viel Verdorbenheit wirklich im Rehauge-Mädchen in der weißen Spitzenbluse steckt. Aber: Warum einer jungen Frau vorwerfen, was Generationen so genannter Skandalautoren vor ihr genauso gemacht haben?
Der gute alte Herrenwitz
Das derbe Zotenreißen haben die Männer seit Jahrhunderten für sich gepachtet, und jetzt spielt eben eine Frau auf genau dieser Klaviatur. Das provoziert, vor allem die Männer, die die Zotenhoheit offensichtlich ungerne hergeben. Darauf deutet das Verhalten Heinz Strunks hin, der zuvor mit Frau Roche in Sachen „Selbstbefriedigung mit Staubsauger“ tourte und dabei häufig und gern vom Wichsen schrieb und las. Warum er dann mit „Fleckenteufel“ wenig später eine Replik auf „Feuchtgebiete“ herausbrachte, verwundert. Wichsen ist scheinbar Männersache.
ullstein, rororo, fischer verlag
Das Cover von „Fleckenteufel“ erscheint übrigens in Buben-Himmelblau statt Mädchen-Pink, mit Waschlappen statt Pflaster. Und es war das erste einer Reihe von Tabubruch-Fortsetzungen im gleichen Coverdesign: „Nacktbadestrand“, „Pilzkulturen“ oder „Trockensümpfe“ und wie sie alle heißen.
Neues Buch „Schoßgebete“
Bleibt zum Schluss nur mehr die Frage, warum Roche für ihr mit allen Registern der „Aufregung“ spielendes Buch einen derartig lahmen Schluss gewählt hat. Nämlich dass Helen mit dem Krankenpfleger in den Sonnenuntergang des heterosexuellen Liebesglücks reitet. Ein unrevolutionärer, vielleicht sogar nach Versöhnung heischender Schluss für ein ansonsten grenzüberschreitendes Buch.
Ab morgen gibt es das neue Buch von Charlotte Roche zu kaufen, „Schoßgebete“ heißt es, der Titel ist wohl nicht zufällig an den so erfolgreichen Vorgänger „Feuchtgebiete“ angelehnt. Das Cover ist diesmal lila und es sind zwei Eicheln darauf abgebildet. Inhaltlich beschäftigt sich „Schoßgebete“ mit dem angeblich letzten Tabuthema Sex in der Ehe. Irmi Wutscher hat ihr Rezensionsexemplar unter größten Sicherheitsvorkehrungen entgegengenommen und sitzt jetzt zu Hause und liest.