Erstellt am: 1. 8. 2011 - 11:36 Uhr
Riesenbaby und Riesenbrust
Die Reise nach Brobdingnag
Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz
insel verlag
"Wir zogen die Steuerbordgeitaue an Bord und warfen die Luvbrassen und Toppnanten ab, setzten die Leebrassen, zogen die Luvbulinen nach vorn ein, holten sie fest und belegten sie; dann zogen wir die Besangei nach Luv herum und hielten das Schiff scharf beim Wind, so nahe es nur daran liegen wollte."
Und das ist nur das Ende des langen Absatzes, der vor Begriffen aus der Seefahrt übergeht. Eine der witzigsten Stellen im ganzen Buch, es sei denn man versteht, wovon die Rede ist. Dann ist es, nehme ich an, eine Schilderung eines Seesturms. Dieses Voraussetzen von Unwissen des Lesers kann manchmal tatsächlich das Wesen einer Parodie sein. Interessant, dass Kapitän Gulliver sich nun mit seinem guten Vorsatz, den Leser nicht allzu sehr mit Einzelheiten zu belästigen, zurückhält.
Bei Gullivers Besuch von Lilliput war der Übergang bzw. die Initiation noch ein tiefer Schlaf, das älteste Scharnier zwischen bekannten und neuen Welten. Jetzt geht er direkt an Land, sogar mit einem Dutzend anderer Leute vom Schiff. Gulliver wird von seinen Gefährten getrennt und findet sich auf einer breiten Landstraße wieder, die allerdings gar keine Landstraße ist, sondern nur ein ausgetretener Fußpfad in einem Weizenfeld. Riesige Menschen gehen dort herum.
„Ich überlegte, als welche Demütigung es sich für mich erweisen müsse, unter diesem Volk ebenso unbedeutend zu erscheinen, wie es ein einzelner Lilliputaner bei uns wäre. Doch dies hielt ich noch für das geringste Unglück; denn da zu beobachten ist, dass die Menschen im Verhältnis zu ihrer Körpergröße immer wilder und grausamer werden, was konnte ich da anderes erwarten, als ein Leckerbissen im Munde des ersten jener riesenhaften Barbaren zu sein, der mich ergreifen würde?“
Und Gulliver geht bei seinen Gedanken sogar noch etwas weiter, er stellt sich vor, dass es möglicherweise noch in beiden Seiten weitergeht – kleinere Menschen als in Lilliput, größere Menschen als hier, vielleicht in unendliche Progression...
Gulliver wird gepflückt und als Kuriosität nach Hause gebracht. Riesige Gesichter bestaunen ihn. Und dann stellt sich den Bewohnern dieses Landes eine schwierige Frage: Wie stellt man fest, ob dieses winzige bewegliche Ding tatsächlich ein Mensch ist oder nur ein kleiner, fein gearbeiteter Automaton?
Sie wenden eine milde Form des pantomimischen Turing-Tests an, das heißt (vereinfacht ausgedrückt), sie beschließen, dass etwas, das einigermaßen vernünftig auf ihre Zeichen reagiert, auch vernünftig sein muss.
Gulliver zweifelt natürlich nie an, dass es sich bei den riesigen Gestalten um Menschen handelt. Allerdings würde ich bezweifeln, dass es sich bei der Katze, die „nicht die geringste Notiz“ von ihm nimmt, als man ihn „nicht weiter als drei Ellen von ihr entfernt niedersetzte“, um eine wirkliche Katze handelt. Denn wenn ich eines über meine Katzen weiß, dann dass sie mich zweifellos, wäre ich plötzlich im Verhältnis zu ihnen winzig klein, jagen würden, einfach so, aus Neugier.
Insel Verlag
Baudelaire besingt in seinem Gedicht „La Géante“ die Brüste der riesigen Frau, bei der er gerne wohnen würde. Es ist eine bekannte erotische Fantasie. Aber von erotischen Fantasien wird man bekanntlich immer durch ihre Erfüllung geheilt – die Brüste der Frau, die ihr Kind (das Gulliver kurz zuvor neugierig in den Mund gesteckt hat) stillt, flößen ihm einen derartigen Ekel ein, dass er gar nicht weiß, mit was er sie vergleichen soll. Die Hautporen! Der unirdisch riesige Warzenhof! Das kann einem schon für immer die Lust auf Kontakt mit Menschenwesen verderben. Und in gewisser Weise ist, wie wir noch sehen werden, genau das das geheime Programm des Buches, die Unterströmung, gegen die der Leser anschwimmen oder von der er sich mitreißen lassen kann.
Aber manches wirkt auch gegen diese große Symphonie des Ekels, am meisten vielleicht das zweite Kapitel dieses zweiten Teils, die Beschreibung von Glumdalclitch, dem Mädchen, das sich um Gulliver kümmert. Seine „kleine Wärterin“, wie er sie nennt. Es ist die wahrscheinlich zärtlichste Stelle des ganzen Buches. Und ich mag sie gar nicht durch meine plumpe Nacherzählung oder Beschreibung verwässern...