Erstellt am: 28. 7. 2011 - 14:15 Uhr
Mächtige Feinde
„Ihre Toten begraben sie mit dem Kopf senkrecht nach unten, weil sie der Meinung sind, dass sie in elftausend Monden alle auferstehen. In dieser Zeit werde sich die Erde (von der sie glauben, sie sei flach) mit der Oberseite nach unten drehen, und auf diese Weise werde man sie bei ihrer Auferstehung in Bereitschaft finden, da sie richtig auf den Füßen stehen.“
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Ob sie Gulliver auch so begraben würden, den Riesen, der sich in ihr Reich verirrt hat? Manchmal scheint es, dass er fast so etwas wie ein kollektives Hirngespinst ist, das über die Liliputaner gekommen ist. Denn er ist – wie er selbst oft versichert – der einzige Hinweis darauf, dass die kleinen Menschen wirklich klein sind. Denn alles andere ist im Verhältnis zu ihnen, nicht zu ihm: Tiere, Bäume, ja sogar das Wetter scheint sich den Miniaturverhältnissen angepasst zu haben. Für ein so kleines Geschöpf wie es zum Beispiel eine liliputanische Wachtel darstellt, wäre das Schwerefeld unseres Planeten kaum mehr von Bedeutung. Wie bei einem Insekt würde sie den Ruck der Marionettenschnüre der Gravitation nicht mehr an sich spüren, sondern würde sich in dem uns unvorstellbaren Kräftebereich der Oberflächenspannung fortbewegen. In einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick wird ein Mann in einer Verkleinerungsmaschine eingeschlossen. Er schrumpft unaufhaltsam weiter und kann nicht aus der Maschine entkommen, bis er so klein ist, dass andere Kräfte auf ihn einwirken und er plötzlich durch die Materie – denn kein Stoff der Welt ist absolut dicht – rutscht und so zurück in die Welt gelangt.
Insel Verlag
Da fällt mir ein, als Kind habe ich mit einem Freund oft ein Spiel gespielt, bei dem wir uns vorstellten, kleine lebendige Menschen zu beaufsichtigen; wir hielten sie in Flaschen und auch Schatullen, glaube ich. Spielfiguren waren eben nur ein schlechter Ersatz für – ja, für was eigentlich? Ich kann mich erinnern, dass wir einmal die winzigen imaginären Menschenwesen in einem Behälter unter Wasser getaucht und uns dann vorgestellt haben, was sie dabei erleben. Irgendeiner von uns drehte dann den Behälter unter Wasser um, so ähnlich wie es die flache Scheibe der Erde am Ende aller Tage tun wird, wenn alle Toten wie Pudding zurück ins Leben gestülpt werden...
insel verlag
Aber zurück zu Gulliver. Sie begraben also ihre Toten mit dem Kopf nach unten. Doch Gulliver werden sie nicht so behandeln, nein, denn gegen ihn geht ein Komplott – wegen Bepinkelns der kaiserlichen Gemächer und wegen der Weigerung, die gesamte Kriegsflotte von Blefuscu vollkommen zu zerstören – und man ruft nach der Todesstrafe für ihn. „Sogleich nach Eurem Tode“, versichert ein Vertrauter dem verängstigten Gulliver, „könnten dann fünf- oder sechstausend der Untertanen Seiner Majestät Euch in zwei oder drei Tagen das Fleisch von den Knochen schneiden, es fuhrenweise wegschaffen und, um Seuchen zu verhüten, in abgelegenen Gegenden vergraben. Das Skelett könnte als Denkmal der Bewunderung für die Nachwelt bleiben.“
Doch Gulliver hat Glück, er wird begnadigt. Der Kaiser bestimmt, dass Gulliver lediglich sein Augenlicht verlieren soll. Alles wird gut gehen, versichert man ihm, die besten Wundärzte Seiner Majestät werden anwesend sein und die Operation überwachen.
Und nicht einmal jetzt erlaubt sich Gulliver einen kleinen Präventivschlag als Godzilla. Nein, er nennt die Liliputaner, die ihm nach dem Leben trachten, weiterhin seine „mächtigen Feinde“. Und er flieht. Zuerst nach Blefuscu, dann mit einem angeschwemmten Boot übers Meer, bis er schließlich wieder – der Leser wird mit Einzelheiten der Seereise verschont – nach Hause kommt.