Erstellt am: 25. 7. 2011 - 12:24 Uhr
Godzilla und die Politik
Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz
Vom Mond oder einem der Sterne
„Die erste Bitte, die ich vorbrachte, nachdem ich meine Freiheit erhalten hatte, war, man möchte mir die Erlaubnis erteilen, Mildendo, die Hauptstadt zu besichtigen“.
Mein Gott, möchte man ihm zubrüllen, du warst doch die ganze Zeit frei, diese kleinen menschlichen Ameisen konnten dir doch nichts tun! Aber trotzdem... Was würde ich in dieser Situation tun? Klar, ich würde auch einen Antrag stellen, dass ich die Hauptstadt sehen darf, warum nicht... Wozu sich in Godzilla verwandeln?
Gulliver besucht die Hauptstadt und die Leute schauen ihm von den Fenstern aus staunend zu. Er steigt mit einem selbstgebastelten Schemel in den Innenhof des kaiserlichen Palasts und betrachtet dort „die Kaiserin und die jungen Prinzen in ihren verschiedenen Wohnungen, umringt von den Vornehmsten ihres Gefolges. Ihre Kaiserliche Majestät geruhte, mir sehr gnädig zuzulächeln, und reichte mir aus dem Fenster die Hand zum Kuss.“
insel verlag
Es ist der letzte Augenblick vor dem Einbrechen derjenigen Kraft, die am Ende immer kommen muss: die Politik. Denn in Lilliput gibt es, wie Gulliver erfährt, große Probleme: Da wären zum einen die unterschiedlichen Längen der Stiefelabsätze. Manche Lilliputaner bevorzugen kurze, manche lange Absätze. Und zwischen diesen Parteien besteht ein langer, erbitterter Widerstreit. Und dann gibt es natürlich noch die große Bedrohung von außen: Das mächtige Reich Blefuscu, das angeblich bereits mit einer Flotte von Kriegsschiffen gegen Lilliput rüstet.
Das ist die richtige Kombination, die bis heute gut funktioniert. Zwei Parteien im Inneren, die sich nicht mögen und zu denen die Menschen mehr aufgrund ihres persönlichen Geschmacks gehören als aufgrund intellektueller oder sozio-ökonomischer Überlegungen – und eine ständig drohende Gefahr von außen.
Die Träger niedriger Absätze sind im Augenblick an der Macht. Auch der Kaiser ist einer von ihnen. Allerdings: „Wir schätzen“, sagt ein Beamter des Hofes, „dass uns die Tramecksan oder die Träger hoher Absätze an Zahl übertreffen; aber die Macht liegt völlig in unseren Händen. Wir befürchten, dass Seine Kaiserliche Hoheit, der Thronerbe, eine gewisse Neigung zu der Partei der hohen Absätze hat, wenigstens können wir deutlich sehen, dass einer seiner Absätze höher ist als der andere, was ihm einen hinkenden Gang verleiht“.
Natürlich lacht Gulliver darüber nicht. Er weiß, dass die Grenzen der bekannten Welt auch die Grenzen zwischen Ernsthaftigkeit und Lächerlichkeit bestimmen. Wenige Zeilen später sagt es der Beamte selbst: „Denn bezüglich dessen, was wir Euch [Gulliver] haben versichern hören, nämlich dass es in der Welt noch andere Königreiche und Staaten gäbe, welche von menschlichen Geschöpfen bewohnt werden, die so groß sind wie Ihr selbst, sind unsere Philosophen sehr in Zweifel und möchten eher annehmen, dass Ihr vom Mond oder einem der Sterne herabgefallen seid, weil gewiss ist, dass hundert Sterbliche von Eurer Größe in kurzer Zeit alle Früchte und alles Vieh der Länder Seiner Majestät vernichten würden.“
Gulliver stiehlt die feindliche Kriegsflotte. Aber er weigert sich, dabei zu helfen, das Königreich Blefuscu vollkommen zu unterwerfen. Als Leser ahnt man: Lieber als Godzilla, der, wie ein wütendes Kind vor seinen Playmobil-Spielfiguren, einfach, weil er kann, ganze Städte zerstört, möchte Gulliver doch eine Art Gott sein, der seinen ameisengroßen Untertanen, in deren Leben er sich durch Unterwürfigkeit geschwindelt hat, Gut und Böse beibringt und ihnen vorlebt, was für ein gütiges Lebewesen er zu sein glaubt. Und dann brennt eines Tages der kaiserliche Palast und Gulliver, ganz der gute Gott, pinkelt das Feuer pflichtbewusst aus.