Erstellt am: 21. 7. 2011 - 11:04 Uhr
Wolkenkratzerhohe Europäer
Verkleinerungen
Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz
insel verlag
Gulliver – oder besser: Swift – belästigt uns nicht mit den Einzelheiten des Seesturms. In wenigen Zeilen wird erzählt, wie die Besatzung der „Antilope“ Schiffbruch erleidet, wie sechs Seemänner sich in einem Boot retten können, dann kentert auch dieses Boot und nur der Erzähler kann sich durch Schwimmen an das Land einer unbekannten Insel retten. Er legt sich ins Gras und schläft ein.
Okay, lassen wir ihn eine Weile so liegen. Und machen wir einen Schwenk, den Swift nicht macht: nach Lilliput. Die Bewohner dieses winzigen Reiches wissen in diesem Augenblick noch nichts von dem rätselhaften Fund, den sie am nächsten Morgen machen werden: ein grotesk riesiger Mensch! Dieser Tag wird in ihre Geschichtsschreibung eingehen. Aber jetzt schlafen sie noch und ahnen nicht, dass sie gerade einer gewaltigen Katastrophe entgangen sind. Denn wären es zwei Riesen gewesen, die an ihrem Ufer angeschwemmt worden wären, oder gar alle sechs aus dem Boot oder vielleicht die ganze Schiffsbesatzung – es wäre ihr Ende gewesen. Sie wären in aller Herren Länder als lebendiges Spielzeug verkauft worden. Und wer weiß, wozu eine Gruppe wolkenkratzerhoher Europäer noch alles fähig gewesen wäre...
Zurück zu Gulliver: Er erwacht in der Früh und sieht sich gefesselt. Winzige Menschen wuseln um ihn. Sie beschießen ihn mit Pfeilen und sticht ihn mit Lanzen, die ihm nicht viel ausmachen. Dann kommt ein winziger Mensch und hält eine lange Rede an ihn, die er nicht versteht. Man erkennt schnell, dass er keine unmittelbare Gefahr darstellt, und bringt ihm zu essen.
Und hier entsteht eine sehr bemerkenswerte Schwierigkeit im Text von Swift: Man spürt es, wie er dem jedem Leser – vor allem jedem kindlichen Leser – vertrauten Gefühl widerstehen muss, den Koloss gegen diese winzigen Menschlein vorgehen zu lassen. Er könnte sie doch mit einem Schlag vernichten, sie für ihren lächerlichen Pfeilregen auslöschen usw. Aber das geschieht nicht. Und Gulliver ist sich sogar bewusst, wie eigenartig – und, möchte man in Swift’scher Manier beifügen, vielleicht unmenschlich? – sein unterwürfiges, ja respektvolles Verhalten gegenüber den Lilliputanern ist:
„Ich gestehe, dass ich mehrmals in Versuchung kam, vierzig oder fünfzig von denen zu packen, die zuerst in meine Reichweite kamen, während sie auf meinem Leib hin und her liefen, und sie auf den Boden zu schmettern. Aber die Erinnerung an die Pein, die ich erlitten hatte und die wahrscheinlich noch nicht das Ärgste war, was sie mir antun konnten, und mein Ehrenwort, das ich ihnen gegeben hatte (denn so deutete ich [!] mein unterwürfiges Benehmen), vertrieben diese Gedanken bald wieder.“
Gulliver zieht – auch dies ein Einfall, der Swift bestimmt zum Kichern gebracht hat – in einem alten Tempel ein. Es ist der einzige Raum, der groß genug ist, um ihn beherbergen. (Ja, was könnten die ganzen sakralen Bauten der Welt nicht alles in sich aufnehmen an heimatlosen Menschen... aber sie werden leider von Sitzbänken und Geistern oder was auch immer bewohnt, also wird das nicht passieren...)
Die gentlemanhafte Unterwürfigkeit Gullivers bleibt während seines ganzen Besuchs in Lilliput bestehen. Man nimmt ihm all seine Habseligkeiten ab, bis auf einige kleinere Dinge, die er in einer Geheimtasche zurückhält. Er lässt es geschehen. Warum eigentlich?, möchte man ihm zurufen. Weil er nichts mehr sehen würde, lautet die Antwort, die natürlich ein Romanschriftsteller früher spürt als ein Leser. Macht – vor allem eine solche wie sie ein riesengroßer Mensch über winzig kleine Menschen besäße – macht blind für Details.
Wie zum Beispiel für diese exquisite Beschreibung einer Uhr, aus der Sicht eines Lilliputaners: „Es erwies sich als ein runder Gegenstand, zur Hälfte aus Silber, zur Hälfte aus irgendeinem durchsichtigen Metall. Auf der durchsichtigen Seite sahen wir gewisse sonderbare Figuren, die kreisförmig aufgezeichnet waren, und glaubten, wir könnten sie berühren, bis wir bemerkten, dass unsere Finger von jenem durchsichtigen Material aufgehalten wurden. Er hielt diese Maschine an unsere Ohren, und sie machte ein unaufhörliches Geräusch, ähnlich dem einer Wassermühle. Und wir vermuten, dass es entweder ein unbekanntes Tier oder der Gott ist, den er anbetet. Wir neigen aber mehr zu der letzteren Ansicht, weil er [Gulliver] uns versicherte, er tue selten etwas, ohne es zu Rate zu ziehen.“
Da mein Artikel nicht zu lang werden darf, überspringen wir die lustigen Kunststücke, die Gulliver für den Hof aufführt. Halten wir nur fest, dass er „viele Eingaben und Bittschriften zur Erlangung meiner Freiheit eingesandt“ hat. Wie man es von einem Mann mit einer gut entwickelten praktischen Ethik wahrscheinlich auch erwarten würde. Und man gewährt ihm die Freiheit – unter einigen Bedingungen, darunter: „Er soll Unser Verbündeter gegen Unsere Feinde auf der Insel Blefuscu sein und sein möglichstes tun, um ihre Flotte zu vernichten, die gerade zu einem Einfall in Unsere Länder rüstet...“